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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 48.1932-1933

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Michel, Wilhelm: Die neue Stunde in der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.16480#0142

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Die neue Stunde in der Kunst

Wenn auch der Kunstmarkt noch darniederliegt:
die Zeit der eigentlichen ..Kunstfeindschaft" ist vor-
bei. Es bedarf nur einer gewissen Frist, bis das
überall deutlich fühlbar wird.

Die Geltung der Kunst steht und fällt mit der Gel-
tung der Menschengestalt. Das heißt: Kunst hat in
jeder Kulturepoche, die sich ..menschengestaltig"
zu fassen sucht, ihren festen Platz. Sie verliert ihn,
sobald die Maßstäbe (Wertbegriffe und Strebensziele)
einer Epoche an die „Sachen" übergehen. Kunst-
feindschaft ist immer Begleiterscheinung einer —
wenn auch in zivilisierten Formen sich vollziehen-
den— Entmenschung. Eine Periode dieser Entmen-
schung haben wir durchwandert. Sie liegt heute
hinter uns. Sie liegt wenigstens insofern hinter uns,
als eine W andlung der Geister begonnen hat, die es
uns heute unmöglich macht, den Weg der Entmen-
schung (Versachlichung, Seelenverleugnung. Zah-
lenbesessenheit) mit derselben frenetischen Wut
weiter zu verfolgen wie bisher. Als Unwissende
sind wir auf diesen WTeg geraten. Wir verlassen
ihn heute, nicht weil wir etwa bessere oder fröm-
mere Menschen wären als unsere Vorgänger, son-
dern weil wir auf diesem Weg eine Reihe bestimm-
ter Todeserfahrungen gemacht haben, die einfach
nicht weggeleugnet werden können. In der Wissen-
schaft, in der Wirtschaft, im Politischen kommt ein
neu gerichtetes Denken auf: eine geistige Einstel-
lung auf das Positive, auf das Wesenhafte. Der
Mensch kommt als Wertmaßstab zur Geltung; nicht
der Mensch, sofern er bloß animalisches oder bloß
rationales WTesen ist, sondern der Mensch als jene
Ganzheit, in der eine Mehrzahl von Kräften und
Zugehörigkeiten organisch gebunden ist. Dieser
..totale" Mensch ist aber immer zugleich der Mensch
der Kunst.

Nicht, als ob das unbekannt gewesen wäre in jenem
Zeitpunkt, da wir uns zur Kunstfeindschaft ver-
lockenließen. Es ist ein ewiges Wissen, daß Mensch
und Kunst zusammengehören. Aber was hilft eine
ewige Einsicht gegen bestimmte, geschichtlich
auftretende Tendenzen? Sie setzen sich gegen alles
Wissen durch. Sie gaukeln den Zeitgenossen sogar
die Möglichkeit eines höheren, volleren Menschen-
lebens vor. Die Kunstfeindschaft versprach uns als
Ersatz eine freiere, unendlich erweiterte Begegnung
mit der Wirklichkeit. Man prüfe sich: waren nicht

unser aller Augen in das Schwarz, Grau und Weiß
des photographischen Abbildes verliebt? Und man
prüfe sich heute : spüren wir nicht geheim in uns
einen Kursverlust des photographischen Weltbildes?
Wenn es uns vor kurzem noch eine Lust war (eine
Lust ohne weiteres), dem photographischen Bericht
zu begegnen: sind wir nicht heute schon umge-
stimmt auf jenes neue Empfinden, das sich nur da
mit „Bild" beschenkt fühlt, wo die menschliche
Spannung, die menschliche Auseinanderspannung
in Auge und Seele und Geist ins Spiel tritt?
Ein Hunger nach dem Element „Menschlichkeit"
beginnt in unserer W7elt sich zu regen, der ohne
weiteres auch als „Hunger nach Kunst" fühlbar
werden wird. Die W7elt verflacht, d. h. die Wirk-
lichkeit selbst wird flach und vordergründig, das
Leben selbst blutet aus und wird schwunglos, wo
der Mensch nicht mehr aus seinen urgegebenen
Spannungen leben will.

Nicht um die Kunst zu retten, sondern um die Wirk-
lichkeit und die Lebensintensität zu retten, muß die
mit der Kunstfeindschaft verbundene Denkweise
verlassen werden. Das steht heute nicht nur als
Forderung da. Das ist ein Geschehen, das faktisch
schon im Gange ist. Wir haben uns dem Glauben
hingegeben, daß die Erkrankung der Kunst (d. h.
die Kunstzweifel beim Künstler und die Erlahmung
des Kunstinteresses beim Volk) eine Erscheinung
für sich sei, die wohl gar neue Kräfte für die reale
Bearbeitung der Wirklichkeit frei machen werde.
Dieser Glaube hat sich als ein Wahn erwiesen. WTo
die Kunst erkrankt, da ist die zugehörige „Wirk-
lichkeit" erst recht erkrankt, d. h. sie ist nicht durch-
seelt und nicht durchgeistet, sie ist nicht mensch-
lich assimiliert, sie entzieht sich dem Begreifen
und der Organisation, sie steht in wirtschaftlicher
Anarchie und in politischer Verwilderung und in
geistiger Unzugänglichkeit.

So gewiß als heute zum ungeschriebenen Gesetz
alles Tuns das neue Streben nach einer menschen-
gestaltigen Welt erhoben ist, so gewiß bereitet sich
eine neue Grundlegung der Kunst vor. Das ist nicht
Hoffnung, das ist nicht Forderung, das ist feste Ge-
wißheit, fm Alltag mag sich der müde, verdrossene,
geistfremde Schlendrian von gestern noch eine
Weile hinschleppen: das Urteil ist ihm gesprochen,
seine Tage sind gezählt. Wilhelm Michel

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Knust C Alle. Jahrg. 48, Heft S, Februar Ott 17
 
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