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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 48.1932-1933

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Michel, Wilhelm: Neue Beziehung zwischen Kunst und Religion
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https://doi.org/10.11588/diglit.16480#0101

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Gg. Joh. Lang, Oberammergau. Weihnachtsgruppe

Neue Beziehung zwischen Kunst und Religion

Alles Denken über Kunst, das deren grundernste
anthropologische Bezüge nicht zu würdigen weiß,
geht hoffnungslos in der Irre. Davon können auch
gewisse religiös gefaßte Absagen an die Kunst nicht
ausgenommen werden. Sie wurzeln in einer Zeit,
da einer religionsblinden Y\ elt eine weltlose Religio-
sität gegenüberstand. Gewiß ist die Kunst samt der
Kultur immer tief in das menschliche Irren ver-
schlungen. Aber mit menschlichem Irren hat die
Religion immer zu tun, und wenn sie sich um
irrende Menschen nicht mehr kümmern wollte,
hätte sie auf Erden überhaupt nichts mehr verloren.
Die ablehnende, finstere Scheu, mit der bis gestern
die Religion der Kunst und Dichtung der Zeit gegen-
überstand, ist heute keine mögliche Haltung mehr.
Xach dem großen Anprall an die Grenzen, den unser
Kulturkreis erfahren hat, sind alle Kräfte in unsrer
Welt neu geordnet: die Kunst ist gottsichtig gewor-
den, die Religion ist weltsichtig geworden, niemand
wird der heute gegebenen Lage gerecht, der mit
gestrigen Gesinnungen in ihr weiterzuleben ver-
sucht. Wenn irgendeine Konsequenz der gemachten

Erfahrungen feststeht, so ist es die, daß Kunst und
Religion in ein neues, liebendes Verhältnis zuein-
ander treten müssen.

Kunst ist kreatürlicher Art und eher wild als zahm.
Sie ist so wenig Haustier wie der Mensch Haus-
tier ist. Aber sie samt der Kultur exponiert den
Menschen erst ganz. Sie hält ihn ernstlich in die
..Erfahrung" hinaus, sie setzt ihn vollständig ins
Wagnis ein und setzt ihn damit vollständig der Er-
probung und der wirkenden Wahrheit aus. Darum
darf zwischen ihr und der Religion die Sprache nie
abreißen. Das wird heute wrieder gesehen. Die Kunst
enthält den wirklichen Menschen. Reißt die Sprache
zwischen Kunst und Religion ab, so heißt das, daß
ein Riß zwischen Mensch und Religion ist und daß
beide in einer Gespensterwelt leben. Da geht die
Religion in die mißtrauische Defensive und blutet
moralistisch aus. Da geht die Kunst in die Tiefe des
Abfalls und spricht Zorn und Zerreißung aus.

Wilhelm Michel

Aus seinem eben erschienenen Buche ..Wir heißen euch hoffen!"
(Darmstädter Buch- und Kunstverlag).

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