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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,1.1905-1906

DOI Heft:
Heft 6 (2. Dezemberheft 1905)
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Avenarius, Ferdinand: Hilligenlei
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https://doi.org/10.11588/diglit.7963#0384

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Jesus nachfühlen, dem die Augen offen waren, zu sehn. Den Jesus
zu zeigen, an den die Modernen glanben, seine Seele vor uns
aufleben zu lassen, wie die Alten ihren Jesus zeigten, daß er
vor uns wandelte nnd zugleich in uns lebendig ward, das verlangte
die Aufgabe. Nicht Berichte und Reflektionen. Eine einzige kurze
Darstellung von der Kraft, die im Lutherschen Bibeldeutsch beispiels-
weise der Gang nach Emans ausstrahlt, hätte das ganze Werk über-
sonnt. Statt dessen ist die „Handschrift" eine gut gcschriebene Agi-
tationsschrift, vielleicht sehr nützlich an sich, in der Dichtung aber
ein Fremdkörper. Gegen Frenssens Tiefe führt es zu einem ge-
wissen Mißtrauen, daß er gerade hier versagt hat.

An hundert andern Stellen ist er ein Poet, der mit allen
Sinnen in seiner Phantasiewelt lebt. „Hilligenlei", „Heiligland",
das Hafenstädtchcn, das da irgendwo zwischen Elbmündung und
Jnsel Nordstrand an den Watten liegt, stellt uns seine und
seiner Nachbarschaft Bewohner in einer Reihe von Menschen vor,
die uns auf Jahre hinaus als beachtliche Bekannte, zu gutem
Teil als geheime Freunde auf den Schlender- und Traumgängen
unsrer Seele begleiten werden. Was Land und Volk dort unten
so interessant macht, gibt auch ihren Gesichtern meist die be-
sondere Farbe: Meerluft, die über Heide streicht, unbildlich ge-
sprochen: das stäte Hineinwirken von Beziehungen aus der Ferne,
aus der weiten Welt in eine alte Kultur, die noch Rasse und Heimat
hat. Jn Holstein wohnt so verschiedenes Volk, daß nur ein Land-
eingesessener sagen könnte: diese Menschen sind ganz so geschildert,
wie sie dort sind, oder sie sind es nicht. Aber wie es mit ihrer
Wirklichkeit stehe, um ihre Möglichkeit steht's gut, denu ihre ein-
zelnen Organe, gesund an sich, arbeiten auch für- und ineinander.
Frenssens Vorliebe haben die Frauen: Er liebt, sie mit kräftiger
Natürlichkeit und mit einer Sinnlichkeit auszustatten, die mitunter
so stark ist, daß ich meinerseits die Reinheit und Keuschheit der
Geschilderten nicht so entschieden betonen würde, wie ihr geistiger
Vater tut. Es sind auch ein paar Auftritte im Buch, die an die
Grenze des bisher in den Kreisen „Erlaubten" gchn, die doch Frenssen
anstandslos lesen, und einen oder den andern davon hätte auch ich
an dieser Stelle gern entbehrt. Dafür gibt es auch Szenen, die das
Erkeimen einer tiefinnen noch keuschen Liebe mit Licht und Duft
malen. Von Männern werden prächtige Gestalten neben schr
zweifelhaften Herren vorgeführt, aber glaublich sind sie alle,
glaublich ist sogar das in seiner ganzen Mannschaft verschnapste
sowohl wie das Jdeal-Schiff, die sv unmittelbar hintcreinander uns
ihre Leute zeigen. Stellenweise entzückend sind wieder Frenssens
Kinderszcnen. Das Zusammentreffen von Erscheimmgen der alten
und nenen Zeit in der Kleinstadt nahe der Großstadt ist oft ganz
meisterlich dargestellt, ich mache auf die Zeituugsredaktion, den Klub
mit dem präsidierenden Bürgermeister, die Wurstfabrik aufmerksam,
Brennpunkte einer sonst auch überall munter herumleuchtenden vor-
trefflichen Geisteshelligkeit.

Nein, wir dürfen uns des Buches trotz seiner Mängel freuen.
Und wer sich darübcr ärgert, daß Frenssen jetzt mehr, als Größere,

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