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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — 10.1875

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Valentin, Veit: Die Venus von Milo, [1]: neue Aufschlüsse über ihre Auffindung
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https://doi.org/10.11588/diglit.4970#0135

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259

Die Venus von Milo.

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betrachtet werden. Daß dies eine typische Darstellung
ist, die lebendig bewegte Haltung aber mit Nothwendig-
keit auf eine dramatische Darstelluug hinweist, daß somit
Motiv der Darstellung und Art der Darstellung in
unversöhnlichcm Widerspruch stehen — das ficht deu Ar-
chäologen nicht weiter an. Die anatomische Untersuchung
der Körperhaltung, die nach ästhetischen Anschauungen
den ersten Ausgangspunkt, den Schlüssel für das Ver-
ständniß des Motivs bildet, wird von ihm ebenso wenig
wie die Unterscheidung dcr thpischen und der dramalischen
Darstellung und die sich hieraus ergebenden Folgerungen
irgendwie einer weiteren Beachtung gewürdigt.

Die zweite Phase bezeichnet ein Buch von Jean
Aicard*), desscn letzter Nachtrag vom 16. Mai 1874
datirt ist. Der Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist
eine nachgelassene Notiz Matterer's, welche seinem
früheren Bericht, den er bei Gelegenheit des Todes
des inzwischen Contre - Admiral gewordenen und 1842
mit Frau und Kind auf der Eisenbahn verunglückten
Dumont d'Urville über die Auffindung der Statue ge-
geben hatte, widerspricht und die nun „die ganze Wahr-
heit" geben will. Während er früher behauptet hatte:
„illss clsux brus stuiönt inuUrsursussiusnt ou886s"
sagt er jetzt: „Uorsgus N. Oumout ä'UrviUo ot inoi
UV0U8 vu lu 8tutuo äuu8 okiuuuiioi'o, sUs uvuit
8ou Uru8 Auuokio olsvo ou i'uir, touuut Uuu8 8U
muin uuo pomm6." (^iourä, x. 152.) Durch allerlei
Jntriguen sei es fast gelungen gewesen, die Statue in
türkische Hände zu bringen; da sei zu rechter Zeit Mar-
cellus auf dem französischen Schiff „Estafette" ange-
langt, habe kurzer Hand die „Räuber" (!) der Statue
üngreifen und diese ihnen durch Gewalt entreißen lassen.
Erst bei dieser Gelegenheit habe die Statue den linken
Arm verloren, oder, wie er sich im Verlauf des Buches
korrigirt, erst hier sei der linke Arm zertrümmert worden,
von deni man in der gedrängten Lage nur die bekannten
zwei Fragmente habe mitnehmen können. Marcellus
habe diese „koroo brutuio" verheimlichen wollen und
nur Clarac einige nöthige Andeutungen gegeben, die
dessen Erklärung und Scharfblick begreiflich machten.
Ebenso hälte Dumont d'Urville zur Ehre der franzö-
sischen Nativn gcschwiegen und Matterer habe bei Leb-
zeilen sich durch Aufdeckung der nicht eben sehr rühm-
lichen Thatsache nicht mißliebig machen wollen. Zur
Erklärung der mancherlei Schwierigkeiten seiner Hypo-
these zieht Aicard namentlich den sehr wichtigen und bei
der Frage nach der Zngehörigkeit der Fragmente des
linken Armes noch nicht genug betonten, von Preuner
z. B. gar nicht erwähnten Umstand heran, daß der linke

*) Im Vsuus cls Uilo. Vsoberebes sur k'dmtoire
äe la äseouverte ct'apres äes äooumeuts iuväits xar äsau
^ioarä. karin, 8auäo2 et i'isebbaeber. 1874. 8. 235 x.

Arm durch einen eisernen Halter an dem Körper bb-
festigt war. Aicard's Worte, in denen er seine Folg^
rungen zusammenfaßt, sind S. 207 ff.: üu 8tutus, cpuanci
oiis u oto äooouvsrts, uvuit uu drg.8, lo Auuobo,
lovo 6t tsuunt Ull6 pommo; 1s puzc^uu F.lltoM0
Lottoui8 sder bei der Auffindung zugegen gewesene Sohv
des Bauern Jorgos, welcher als Greis im Jahre 18^'
noch lebte und dem damaligen französischen Gesandten
in Griechenland, Jules Ferry, dessen Bericht Aicarv'
S. 188 sf. abdruckt, die Anffindung erzähltes uo I^
,sumui8 oudlio. 6o drg.8 muilltouu pur uu tonov
ätuit modils. 1,68 puv8NU8 (äor^o8 st ^rutollio) poui
trun8port6r lo busts äo lu 8tutu6 äun8 Ivur oudullS,
out äämonts 1u 8tutus; Ü8 out ästuobo 1s bruS'
6s Iiru8, sutisr äuv8 8g. lovAusur, u sts vu sll
pluos pur N. Nattsrsr. chuoic;u6 sutisr, il pouvuit
ospolläuut ätro äsAruäs, st il stuit modils Ai'üos
uu tsuoll, os cpui oxplicpus 1s8 mot8 äs 1u notios
äs ä'IIrviüs: „mutilos^" st „ästuobsss äu vorps-

Man wird zunächst sehr geneigt sein, der Hypothese
Aicard's in Betreff der Verschweigung jenes brutalen
Kampfes Glauben zu schenken, theils weil sie in der
That den ganzen Verlauf in verständlichen Zusaminen-
haug bringt, theils weil man voraussetzen darf, daß
ein Franzose nicht der Eitelkeit seiner Nation durch
eine ihr uuliebsame Enthüllung einer Wahrheit in's
Gesicht schlagen wird, wenn er nicht sehr triftige Gründe
für diese Wahrheit beizubringen hat.

Jnzwischen ist aber die dritte Phase eingetreten,
allem Anschein nach die letzte in dieser Frage, welchc
eine Wendnng hervorzubringen geeignet ist. Jn der
zu Konstantinopel erscheinenden Turquie vom 28. Juni
1874 (Achter Jahrgang, No. 146) veröffentlicht nämlich
derGraf von Bogus das letzte uoch fehlendeDokument,
den ersten Brief, welchen der Bicekonsul Brest an den
Geueralkonsul David in Smyrna schrieb und der in den
dortigen Archiven wiedergefnnden worden ist. Dieses
wichtige Dokument heißt:

ülilo 1e 12 avril 1820.

lle vioe-oollsul äs bbanes ä Ailo ä 14. Vaviä, ennsul
Köllvral äe 1''raue« L Lwxrllö.

4s vous äirai, uioimiöur Is oonsul Avnöral, qu'un
xaz'saii vient äs trouvsr äans un obaiiix ä lui axparte-
llant, trois 8tatuö8 en marbrs, rsxrsselltallt I'uns Venus
tenant la xouiniö äs äisooräö äans uns niain; ellö sst un
peu mutilss; les bras sont oassss; ells öst parta^ee ev
äeux xisoes xar la oeinturs. 6e1a ns nianqus pss oexen-
äant que ä'etre un bon ouvra^e. ü'autre rexresöiite I«
äisu ll'srme, et la troisiems est un seunö öllkant.

Am 12. April, also vier Tage nach der Auffin-
dung, heißt es, „die Arme sind gebrochen", ohne daß
die geringste Andeutung gegeben wäre, daß dieser Zu-
stand nicht der bei der Auffindung vorhanden gewesene
sei, — Dumont d'Urville aber sah die Statue erst
 
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