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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — 10.1875

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Lübke, W.: Raffael's Madonna di Cempi, gestochen von J. L. Raab
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Valentin, Veit: Die Venus von Milo, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4970#0175

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339

Die Venus von Milo.

340

zu Berlin gegeben hat, wie viel freier ist hier das
Motiv verwerthet, und wie köstlich lebendig ist der Knabe,
der durstig das Aermchen nach der Mutterbrust aus-
streckt und am Kleide zupft! Jn der Madonna di Tempi
endlich wird das einfache Thema der Madonna del
Granduca wiederholt; aber Maria drückt hier in plötzlich
hervorbrechendem Gefühl süßesten Mutterglückes das
Kind innig an die Brust und neigt ihr holdes Antlitz
zum Kuß gegen das Köpfchen des Kindes, das sich in
einer natürlichen Bewegung seitwärts wendet. Eine
wahrhaft raffaelische Feinheit liegt in diesem Zuge der
Kompositioü, vor Allem aber ein Ausdruck von seelen-
voller Jnnigkeit, der sich wenig darum kümmert, daß
die Haltung der Hände, ihre Form und selbst ihre Ver-
kürzung nicht ganz tadellos ist. Man bemerkt diese
Mängel namentlich an der linken, stark verputzten Hand,
vor Allem fällt auch die etwas schwere und derbe Form
der Hände auf, die wir ähnlich oft an den Madonnen
Lorenzo di Credi's finden, doppelt überraschend in dem
Lande, wo der feinste Gliederbau sich besonders an den
Händen, selbst bei den Frauen der niederen Stände zu
erkennen giebt. Aber gerade diese Naivität, dics Ab-
sichtslose, Natürliche verleiht dem Bilde einen unver-
gleichlichen Zauber, so daß man es uach Jnnigkeit der
Empfindung, Reinheit desAusdruckes, holdseligem Jugend-
reiz zu den köstlichsten Perlen unter den Madonnen Raf-
fael's rechnen muß. Auch die Behandlung des Ge-
wande^ dessen Formen die jungfräuliche Gestalt mn
so reiner zeichnen, als der Mantel im schönen Wurf
herabgeglitten ist und den Oberkörper frei läßt, stimmt
harmonisch zu dem Charakter des Ganzen.

Raab hat mit einer keine Mühe scheuenden Sorg-
falt sich seiner Aufgabe gewidmet und den seelenvollen
Zauber eines Rafsaelischen Werkes mit tiefem Ver-
ständniß wiedergegeben. Nicht bloß, daß er selbst die
Zeichnung gemacht und durch stetes Kontroliren seiner
Arbeit mit dem Original sich immer wieder in dem
langwierigen Prozeß des Grabstichelverfahrens frisch er-
hielt und an der Quelle schöpfte: er hat auch eine
Aquarellkopie des Bildes angefertigt, um deu Farben-
reiz desselben stets sich vor Augen zu rufen. Dieser
umsichtigen Sorgfalt der Vorbereitung habeu wir es
ohne Zweifel zuzuschreiben, daß nunmehr ein Blatt
vorliegt, das zu den edelsten und vollkommensten
Schöpfungen des Grabstichels gezählt werden darf. Denn
es begnügt sich nicht damit, in strenger Linienmanier die
plastische Form und die Komposition wiederzugeben,
sondern ahmt den koloristischen Reiz, den zarten Duft
der Karnation, die feinen Lufttöne, welche die Formen
umhüllen, iu so vollendeter Weise nach, daß auch die
hohen malerischen Eigenschaften Raffael's, welche gerade
über den Werken jener Epoche vom Sposalizio bis zur
Disputa wie ein duftiger Morgenglanz unsterblicher

Jugend ausgegossen sind, zur schöusten Geltung kommcn.
Diese Feinheit malerischen Tons ist aber keinesweP'
auf Kostcn der plastischcn Bestiuimtheit erkauft; iun"
wird überall in der Bewegung der Taillen die
dellirung der natürlichen Form mit feinem Verständniß
ausgesprochen findcn, und wird mit Genuß beobachten,
wie die Zartheit der Fleischpartieen ein glückliches Gegen-
gewicht an der markigen Kraft in den dunkeln Mass^
des Mantels findet, und wie zwischen diesen Gegensätzen
die Mitkeltöne des Kleides, ganz wie im Original, eine
harmonische Berbindung bewirken. Jeder Kunstfreund
wird daher mit uns dieses gediegene Blatt, aus welchen'
die Jugendseele Rafsael's uns so rein entgegen leuchtetz
mit Freude aufnehmen.

W. Lüdke.

Die Venus von Milo.

iii?)

Acstlietik u»d Archaologic.

Nachdem der Thatbestand voraussichtlich endgiltig
festgestellt ist, ohne daß damit eiue Entscheidung über
das Originalinotiv gegeben wäre, so ist, um Brunv
Meyer's treffenden Ausdruck anzuwenden, „viribns ui''
oliusoloAius sxkiunslis", die ästhetische Betrachtung
vollstem Recht, mit ihren Mitteln in die Schranken zu
treten. Sie wird die Statue als Erzeugniß eines Jndi'

*) Jm Juni 1873 erhielt ich von Herrn R. Latinus in
Neapel, dem ich hiermit ftir seine freundliche Zusendung meinen
besten Dank ausspreche, die Photographie eines im dortigen
Museum befindlichen Reliefs mit Hinweisung auf die, S-
meiner „Hohen Frau von Milo" vorgcschlagene Haltung der
zn ergänzenden rechten Hand, daß nämlich „Benus selbst uach
dem Gewand, das cben sinkt, greifen will und in der Aus-
sührung auf einen Augenblick unterbrochen wird, durch die
ihren Arm erfassende Hand des Mars." Das Relief, be-
zeichuet als „Satyr und Vestalin", zeigt einen von rechts her
auf eine ihm gegenüberstehende Frau znschreiteuden Manm
Die Frau packt mit der Hand den Mann im Bart, nm ih»
von sich abzuhalten, während der linke Arm des Mannes den
rechten Oberarm der Frau von unten faßt. Die Frau ist
unterwarts bekleidet, das Gewand geht über die linke deM
Beschauer abgewandte Schulter, hängt über diese nach vorne
lang herab, während die rechte Seite des Oberkörpers unver-
hüllt ist. Die Frau faßt mit der linken Hand das Gewaud,
um sich mit ihm zu verhüllen; die rechte Hand des Mannes
faßt ihren linken Arm oberhalb der Hand, um die Berhüllung
zu verhindern. Das rechtc Bein der Frau stützt sich auf den
Ballen des Fußes, während die Ferse gehoben, und das Knie
einwärts gezogen ist. Es finden sich hier also bei gleicher,
jedoch derber dargestellter Situation zwei Motive, die Aufi
haltung der verhüllenden Hand der Fran durch den angreb
senden Mann und die Anfstützung des schützend vortretenden
Beines auf den Ballen des Fnßes bei analoger Situaüon in
antiker Ueberliefcrung, voransgesetzt, daß nicht das erstere in
die restanrirten Stellen fällt, die gerade in der Mitte vorhanden
 
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