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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — 10.1875

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Valentin, Veit: Die Venus von Milo, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4970#0177

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343

Die Venus von Milo.

344

Körperhaltung wirklich begreiflich macht, für so zwingend,
daß sie uns, selbst wenn der linke Arm sammt dem
Apfel an der Statue noch wäre (man vergesse nicht
den tsnon!), dennoch zu der Behauptung berechtigten,
daß wegen des eklatanten Widerspruchs der dramatischen
Haltung des Körpers und der typischen Natur des
durch die Haltung des Apfels angedeuteten Motivs der
an den Körper angesetzte Arm nicht vom ursprünglichen
Künstler herrührt. Da ist die Annahme einer alten
Restauration unabweisbar. Will man aber gegen eine
solche geltend machen, daß es nicht als irgendwie wahr-
scheinlich zu denken sei, „daß im Alterthum vor der Zeit
des tiefen Verfalls, und dieser kann ja die Restauration
in keinem Falle angehören, eine Statue ganz anders
ergänzt wurde als sie ursprünglich war" (Preuner, S. 18),
so ist dies nichts als eine auf falscher Boraussetzung
beruhende Behauptung: sie setzt nämlich stillschweigend
und als selbstverständlich voraus, daß. man im „Alter-
thum" bei einer der Restauration bedürftigen Statue
das Originalmotiv nothwendig habe kennen müssen,
welche Kenntniß aber iunerhalb des in 'seiner eignen
Kenntniß keineswegs auf ununterbrochener Tradition
fußenden, uns aber nur allzuleicht als Einheit erschei-
nenden Alterthums in keiner Weise nothwendig, sondern
nur eine willkürliche Annahme ist. Jst aber schon
diese erste Boraussetzung nicht stichhaltig, so übersieht
ferner jene Behauptung den sehr nahe liegenden Um-
stasd, daß man zur Erreichung eines bestinnnten Zweckes
selbst bei Kenntniß des ursprünglichen Motivs sich sehr
wohl über die Einhaltung desselben hinaussetzen kann,
da der näher liegende Zweck viel wichtiger erscheint als
die gewissenhafte Berücksichtigung des ursprünglichen
Künstlers. Jm Alterthum aber kannte man diese Ge-
wissenhaftigkeit nicht; man übte, wie hinlänglich bekannt,
in Literatur und Kunst, was wir heute mit dem Namen
Plagiat verpönen. Sollte es da so undenkbar sein,
daß mqn einer Statue, mit Umgehung des ursprüng-
lichen Motivs, selbst wenn man es gekannt odcr erkannt
hätte, ein neues Motiv gegeben habe, um sie dadurch
mit dem Wahrzeichen von Stadt und Jusel, dem Orte
ihrer Aufstellung, zu versehen? Wir halten daher bis
zu einer Widerlegung durch Gründe, statt durch Be-
hauptungen, an der Annahme fest, daß eine antike Restau-
ration dieser Statue dem Namen und dem Orte Melos
zu Liebe einen Apfel gegeben hat, sei es mit bewußter,
sei es mit unbewußter Umgehung des Originalmotivs,
und halten es durchaus für möglich, daß es auch im
kunstgeübten Alterthum dennoch Menschen genug gegeben,
die um einer nahe liegenden und sie erfreuenden Be-
ziehung willen sich einen Widerspruch in Körperhaltung
und oktroyirtem Motiv gerne gefallen ließen, ja wir
sind Ketzer genug, um es sogar für möglich zu halten,
daß es Nichtkünstlern ini Alterthum nicht besser ging

als Künstlern und Gelehrten in modcrner Zcit, dah
nämlich Viele den Widerspruch überhaupt gar niäst
merkten — giebt es doch zu keiner Zeit viele MenschcU'
die bei Betrachtung eines Kunstwerks stets das Waru>u
auf der Zunge haben, wohl aber stets sehr viele solch^
welche mit dem wohlthuenden Eindruck zufrieden ßud
und damit in der Sphäre des ersten Zweckes des Kunst-
werkes bleiben. Also dramatisches Originalmotiv
typisches Ergänzungsmoliv. Dagegen halten wir dü
Auffassung der Statue als den Apfel des Paris sieges-
freudig erhebend um deswillen für salsch, weil dicsts
dramatische Motiv in keinerlei Weise genügt, die gewalt-
same Körperbewegung der Statue zu erklären.

Ueber die Haltung des rechten Armes möchte wvsst
nur insofern eine Meinungsverschiedenheit sich geltend
machen, als man annehmen kann, die rechte Hand habe
das Gewand wirklich gehalten, oder sie habe nur nach
ihm gegriffen, um es zu halten. Wir glauben das letztere,
nicht etwa nur weil es der von uns vorausgesetzteu
Situation vorzüglich entspricht, sondern weil der Zu-
stand des Gewandes keinen Anhaltepunkt dafür giebtz
daß eine Hand es wirklich berührt habe. Man wird
ferner aus dem auf rechter Seite unterhalb der Brust
befindlichen für einen Halter des Armes bestimniteU
Loche schließen dürfen, daß die Hand nicht das Gewand
berührt hat, da nur der frei gehaltene Arm einer solchcU
Stütze bedurfte, während diese bei einer Berührung des
Gewandes durch die Hand ja schon durch diese selbst
gegeben gewcsen wäre.

Von diesen Prämissen aus ging mein Vorschlag
einer Restauration, welche zeigen sollte, wie. ich mir eine
solche innerhalb der gegebenen Verhältnisse denke, die
jedoch selbstverständlich weitere Versuche anregen, nicht
aber abschneiden sollte. Jch habe dabei selbst auf dic
Schwierigkeiten hingewiesen, deren gewichtigste die weiug
nach links hin gehcnde Haltung des Kopfes ist. Diesciu
Faktum begegnet die von mir vorgeschlagene Haltung
des herantretenden Mannes, der sich etwas vorbeugt-
Eine andere Schwierigkeit ist die Haltung des linkcu
Armes, der vielleicht besser in bloß abwehrender Haltung
mit erhobener Hand, ohne den Körper des Mannes zu
berühren, zu gestalten wäre. Doch das sind Fragen,
welche der praktische Künstler zu lösen hat, deren nicht
genügende Beantwortung von Seiten des Kritikers trotz-
dem kein Kriterium für die Richtigkeit des wissenschaft-
lichen Faktums abgiebt. Sie schaffen vielmehr nur ein
neues Problem, aber auf dem Gebiete der Kunst-
Kritiklos und daher werthlos ist eine Bemerkung wic
die Preuner's (S. 22 Anm.): eine Restauration „dic
aber sicher bei keinem Sachverständigen Beifall findeU
wird." Warum haben denn diejenigen, die so sehr ans
ihre Sachverständigkeit pochen und dabei ein so sicheres
Urtheil haben, daß es einer Begründung ihrer orakel-
 
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