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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 7.1932

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Riezler, Walter: Front 1932
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https://doi.org/10.11588/diglit.13707#0020

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fahr der rückschauenden Romantik zu warnen
und hat bei der Planung der großen Ausstellung
von Anfang an betont, daß der „Bedarf der
99 Prozent" ebenso wichtig zu nehmen sei wie
der Luxusbedarf der Wenigen. Wir halten es
aber anderseits für ein verhängnisvolles Mißver-
ständnis, wenn man als eigentliches Ziel des
Sozialismus die Durchsetzung jener Forderungen,
die Sicherung der fälschlich sogenannten „biolo-
gischen" Existenz des Menschen ansieht und dar-
aus die Folgerung zieht, daß sich auch die Werk-
bundarbeit heute danach allein orientieren
müsse. Wenn man den biologischen Maßstab an
den Menschen anlegt, darf man ihn nicht be-
trachten wie ein anderes Tier auch und darf nicht
vergessen, daß zur „biologischen" Existenz des
Menschen auch der ganze ungeheure Reichtum
des Geistigen und Seelischen gehört. In diesem
Bereich aber geht den Werkbund an vor allem
das, was mit der formalen Gestaltung zusammen-
hängt. Wie irgendein Ding, mit dem der Mensch
zu tun hat, aussieht, ist keineswegs gleichgültig,
und es ist ein allerdings immer noch weit ver-
breiteter Irrtum, daß sich die Form aus der sach-
gemäßen Arbeit für einen Zweck von selbst er-
gibt. „Form" ist aber auch nicht eigentlich eine
„ästhetische" Frage und eine Angelegenheit des
„Luxus", sondern Ausdruck der geistig-seelischen
Spannung des Menschen, der allein unter allen
Geschöpfen fähig ist, Geformtes hervorzubringen,
und ebenso allein das Bedürfnis nach Formung
hat, solange er überhaupt ein menschliches Da-
sein führt. Das heutige Rußland ist nur scheinbar
ein Beweis dagegen: Wenn sehr vieles von dem,
was heute dort entsteht, nicht nur primitiv, son-
dern mangelhaft durchformt ist — was übrigens
auch für die neuen Städtegründungen gilt —, so
liegt das daran, daß dort mit der größten Ge-
waltsamkeit und mit absolutem Radikalismus alles
von „unten" neu aufgebaut wird. Daß man nicht
glaubt, damit schon am Ziele zu sein, beweist
schon die erstaunliche Sorgfalt, mit der man die
Denkmäler alter Kunst pflegt, sowie die Ziel-
bewußtheit, mit der man an die Probleme der
künstlerischen Erziehung herangeht. Es ist ein
Zeichen des deutschen Doktrinarismus, daß von
unseren Unentwegten das, was in Rußland Vor-
stufe ist, zum mindesten in der Theorie als Ziel
genommen wird, obwohl unsere Situation gar
nicht danach ist, daß wir uns auf dieser Vorstufe
aufzuhalten hätten*). Es hängt für unsere Sache
sehr viel davon ab, ob es gelingt, diesen Doktri-
narismus zu überwinden, der ja am liebsten jede
Arbeit, die nicht jener eng gefaßten Idee des

*) Wo diese „Vorstufe" auch bei uns Bedeutung hat, wie z. B. bei
der in diesem Hefte angerührten Frage der „Randsiedlung", da wird
sich der Werkbund sicherlich darum annehmen.

Sozialismus entspricht, in erster Linie alles, was
dem „Luxus" dient, verbieten möchte oder doch
als minderwertig und überflüssig hinstellt. Frei-
lich gibt es einen Luxus, der höchst minderwertig
ist und dessen baldiges Aussterben wir alle er-
sehnen. Aber es heißt das Kind mit dem Bade
ausschütten, wenn man nun gleich alles, was
einem verfeinerten Bedürfnis dient, ebenso ver-
dammt, ohne zu fragen, ob nicht eine geistige
Idee dahintersteckt und ob es sich dabei nicht um
eine Weiterentwicklung von Tendenzen handelt,
die schon sehr früh, eigentlich sofort da einsetzen,
wo über das zur Erfüllung des Zweckes unbedingt
Erforderliche hinausgegangen wird. Diese Art
von „Luxus" ist gesund und unentbehrlich, sie ist
sogar entscheidend für die Höhe einer Kultur,
und wenn, wie es beim „Haus Tugendhat" der
Fall war, bedauert wird, daß dieser Luxus heute
noch persönlichem Reichtum dienstbar ist, so ist
dagegen zu sagen, daß es weder die Aufgabe
des Künstlers noch des Werkbunds ist, die soziale
Ordnung umzugestalten. Einstweilen muß man
jedem Reichtum dankbar sein, der dem Künstler
Gelegenheit gibt, eine geistige Idee rein und
ohne Einschränkungen zu verwirklichen.

Und noch an einer dritten Front hat der Werk-
bund zu kämpfen: Die Gefahr der kulturellen
Reaktion, die eine Zeitlang kaum ernst zu
nehmen war, ist seit kurzem wieder drohend ge-
worden, seitdem die heute aktivste politische
Partei ihre Kulturpolitik auf leidenschaftlichen
Kampf gegen so ziemlich alles, was der Werk-
bund in der letzten Zeit zu fördern suchte, ein-
gestellt hat. Der Werkbund war von Anfang an
grundsätzlich unpolitisch, und wir haben nicht die
Absicht, diesen löblichen und für unsere Arbeit
unentbehrlichen Grundsatz aufzugeben. Wir
haben es aber auch gar nicht nötig, von der all-
gemeinen Politik des Nationalsozialismus zu
reden — denn dessen künstlerische Überzeu-
gungen, soweit man von ihnen aus der Presse
Kenntnis erhält, haben mit seiner übrigen Politik
nur sehr wenig zu tun. Seine negative Ein-
stellung zu fast allen wahrhaft schöpferischen
Kräften der Gegenwart beruht im wesentlichen
auf Mißverständnissen: man bringt künstlerische
Bewegungen, die aus der Tiefe der Zeit hervor-
brechen, in Verbindung mit verhaßten politischen
Strömungen — etwa die (in Amerika und Holland
zuerst entstandene!) moderne Baukunst mit dem
Bolschewismus — und bekämpft sie daher mit
aller Leidenschaft. Oder man beurteilt jede neu
aufkommende Bewegung nach den wenig erfreu-
lichen, noch weniger wichtig zu nehmenden Mit-
läufern und den oft auch sehr unerfreulichen
Allerweltsliteraten und -intellektualisten, und be-

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