Die Aufgaben des Gestaltungsunterrichts
WILHELM LÖTZ
Zu allen Zeiten findet der Erzieher den gleichen Stoff
vor: den Menschen mit allen Anlagen, die ihm die Natur
verleiht. Natürlich sind die Anlagen bei den einzelnen
Menschen verschieden verteilt. Und natürlich sind die Zög-
linge, ehe die eigentliche systematische Erziehung an sie
herangetragen wird, nicht mehr in diesem Urzustand, son-
dern Umwelt und Menschen haben schon einen unbewuß-
ten Einfluß, eine Art Vorerziehung, ausgeübt. Durch diese
unbewußte erzieherische Vorarbeit ist das Kind aus einem
von zeitlichem Wandel unberührten Zustand sanft hinüber-
geführt worden in seine Zeit, es hat schon Kennzeichen
und Äußerungen dieser seiner Zeit als Selbstverständlich-
keiten in sich aufgenommen. Aber sehen wir von dieser
Zwischen- oder Vorstufe ab und rekonstruieren wir die
niemals wirklich in Erscheinung tretende unberührte Stufe
der menschlichen Urveranlagung, so erkennen wir die Auf-
gabe des Erziehers als die bewußte Erlösung des Kindes
aus „tumbem" Urzustand und als ein Hinüberleiten in einen
bewußten Zustand. Dieser bewußte Zustand kann um-
schrieben werden mit der abgegriffenen Redewendung
von dem nützlichen Mitglied der menschlichen Gesell-
schaft, zu dem der Schüler erzogen wird. So abgegriffen
die Wendung ist, so richtig ist sie auch noch heute dem In-
halt nach, und die Frage der Einordnung in die Gesell-
schaft ist im heutigen Erziehungswesen eine der aller-
wichtigsten. Man macht aus dem Kind den Menschen
seiner Epoche und gibt sich Mühe, es reif zu machen für
die Aufgaben, die ihm im Rahmen der Gesellschaft seiner
Epoche erwachsen.
Wenn es in der Geschichte der Erziehung Zeiten ge-
geben hat, in denen man die Rückkehr zum natürlichen,
von allem Zeitgeschehen unbeeinflußten Urzustand als
Erziehungsideal ansah, so ist auch dieses Ideal kein über-
zeitliches, sondern ein in den geistigen Strömungen jener
Zeit bedingtes gewesen. In diesem Heft erläutert Walther
Schmidt zu Beginn seines Aufsatzes, daß alle Erziehung
darauf hinzielen muß, den Menschen für kommende Auf-
gaben vorzubereiten, die erst erstehen, wenn die Genera-
tion, die noch in den Kinderschuhen steckt, herange-
wachsen sein wird. Der Erzieher formt also die Glieder
der Gesellschaft von morgen.
Diese Tatsache wird deutlich und klar erkannt im heuti-
gen Erziehungswesen Rußlands, wo man sich sehr klar
darüber ist, daß die Frage der Bildung der kommenden
Generation schlechthin die Existenzfrage des dortigen
Staatswesens ist. Wenn in den Erziehungssystemen des
v/esteuropäischen Kulturkreises, die stärker auf die Aus-
bildung eines freien Individuums hinzielen, die Aufgabe-
stellung der soziologischen Einordnung weniger deutlich
zum Ausdruck kommt, so macht sie sich doch unbewußt
geltend. Denn jeder Aufgabestellung im Erziehungswesen
liegt ein Erziehungsideal zugrunde. Und dieses Erziehungs-
ideal wird bestimmt von einem Wunschbild. Dieses
Wunschbild aber gründet sich auf dem Streben nach stän-
diger Verbesserung und Förderung der menschlichen Ge-
sellschaft und des menschlichen Lebensideals, gleichgültig,
ob der Schwerpunkt mehr auf das Individuum oder mehr
auf die Gemeinschaft gelegt wird. Man möchte die junge
Generation reif und fähig machen, Träger einer besseren
und menschlich weiterentwickelteren Gesellschaft zu wer-
den. Auch hier wieder beleuchtet eine Redewendung das
Gesagte deutlich: „Unsere Kinder sollen es einmal besser
haben als wir."
Aber man würde das Wesen der Erziehung noch nicht
ganz ausdeuten, wenn man ihr diese deutliche, wenn auch
oft unbewußte Zielstrebigkeit zugrundelegt. So gesehen,
erschiene uns die Erziehungsmethode als eine reine Zweck-
form. Aber das ist sie in Wirklichkeit bestimmt nicht. Nicht
nur bei Erziehern, sondern auch in den Erziehungssyste-
men beobachtet man eine große innere Hingabe an die
Erziehungsarbeit als Selbstzweck. Es ist eine Art Arbeits-
freude oder Gestaltungsfreude, ohne deutliche Einstellung
auf das Ziel. Man könnte diese Wesensart der Erziehung
als eine der künstlerischen Gestaltung eng verwandte Ar-
beit bezeichnen, die dem Erzieher besondere Befriedi-
gung und Freude bereitet.
Sprechen wir nun vom Gestaltungsunterricht und seinen
Aufgaben, so müssen wir streng unterscheiden zwischen
dem Gestaltungsunterricht in der Elementarschule und dem
Gestaltungsunterricht in der handwerklichen Berufsausbil-
dung. Wir haben in diesem Heft diese beiden Gebiete
auch gesondert durch Fachleute behandeln lassen. In der
Schule ist der Gestaltungsunterricht ein Teil im größeren
Rahmen des Gesamtunterrichts, während er bei der hand-
werklichen Berufsausbildung der Kernpunkt alles Schulens
und Lernens ist. Man könnte am besten trennen durch die
Bezeichnung „Durchgestaltung" und „Erziehung zur Ge-
staltung".
Damit ist ganz deutlich gesagt, daß in der Schule Zeich-
nen und Gestalten Hilfsmittel oder Bestandteile der Me-
thode der Erziehung zum Menschen sind und in der Be-
rufsausbildung die Gestaltungsfähigkeit Ziel der Erziehung
ist. Hier müssen die beiden Einschränkungen vermerkt
werden, daß für viele Schüler der Gestaltungsunterricht in
der Schule sich später als Vorstufe für ihre Berufsausbil-
dung erweisen kann und daß bei der Handwerkerausbil-
dung die gestalterische Arbeit auch menschlich erzieherisch
wirken soll.
In der letzten Zeit ist in der Schule die einseitige Er-
ziehung und Ausbildung der intellektuellen Fähigkeiten
zugunsten eines breiteren Erziehungsideals gewichen. Die
Ausbildung der körperlichen Fähigkeiten durch Turnen und
Sport nimmt einen größeren Raum ein. Ein gut und richtig
geleiteter Gestaltungsunterricht müßte neben den Auf-
gaben, die hier im folgenden noch behandelt werden
sollen, es sich auch angelegen sein lassen, körperliche
manuelle, sagen wir ruhig handwerkliche Fähigkeiten,
mehr zu betonen. Die Disziplinierung dieser Fähigkeiten
wird ja von Turnen und Sport nicht erfaßt. Walter Dexel
behandelt in seinem Aufsatz hier im Heft nachdrücklich
diese Ausbildungen manueller technischer Fähigkeiten, die
zugleich das Gefühl für Materialwerte und Sinn für solide
Arbeit schärfen. Wir sagten also ganz kurz, daß in der
heutigen Schule neben die Ausbildung der intellektuellen
Fähigkeiten die Ausbildung der körperlichen tritt und daß
es möglich ist, diese Ausbildung körperlicher Fähigkeiten
durch den Gestaltungsunterricht zu erweitern und zu ver-
feinern. Neben die Ausbildung dieser beiden Gruppen
von Fähigkeiten muß eine systematische Erziehung der
Empfindungsfähigkeiten treten. Und hier liegt die eigent-
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WILHELM LÖTZ
Zu allen Zeiten findet der Erzieher den gleichen Stoff
vor: den Menschen mit allen Anlagen, die ihm die Natur
verleiht. Natürlich sind die Anlagen bei den einzelnen
Menschen verschieden verteilt. Und natürlich sind die Zög-
linge, ehe die eigentliche systematische Erziehung an sie
herangetragen wird, nicht mehr in diesem Urzustand, son-
dern Umwelt und Menschen haben schon einen unbewuß-
ten Einfluß, eine Art Vorerziehung, ausgeübt. Durch diese
unbewußte erzieherische Vorarbeit ist das Kind aus einem
von zeitlichem Wandel unberührten Zustand sanft hinüber-
geführt worden in seine Zeit, es hat schon Kennzeichen
und Äußerungen dieser seiner Zeit als Selbstverständlich-
keiten in sich aufgenommen. Aber sehen wir von dieser
Zwischen- oder Vorstufe ab und rekonstruieren wir die
niemals wirklich in Erscheinung tretende unberührte Stufe
der menschlichen Urveranlagung, so erkennen wir die Auf-
gabe des Erziehers als die bewußte Erlösung des Kindes
aus „tumbem" Urzustand und als ein Hinüberleiten in einen
bewußten Zustand. Dieser bewußte Zustand kann um-
schrieben werden mit der abgegriffenen Redewendung
von dem nützlichen Mitglied der menschlichen Gesell-
schaft, zu dem der Schüler erzogen wird. So abgegriffen
die Wendung ist, so richtig ist sie auch noch heute dem In-
halt nach, und die Frage der Einordnung in die Gesell-
schaft ist im heutigen Erziehungswesen eine der aller-
wichtigsten. Man macht aus dem Kind den Menschen
seiner Epoche und gibt sich Mühe, es reif zu machen für
die Aufgaben, die ihm im Rahmen der Gesellschaft seiner
Epoche erwachsen.
Wenn es in der Geschichte der Erziehung Zeiten ge-
geben hat, in denen man die Rückkehr zum natürlichen,
von allem Zeitgeschehen unbeeinflußten Urzustand als
Erziehungsideal ansah, so ist auch dieses Ideal kein über-
zeitliches, sondern ein in den geistigen Strömungen jener
Zeit bedingtes gewesen. In diesem Heft erläutert Walther
Schmidt zu Beginn seines Aufsatzes, daß alle Erziehung
darauf hinzielen muß, den Menschen für kommende Auf-
gaben vorzubereiten, die erst erstehen, wenn die Genera-
tion, die noch in den Kinderschuhen steckt, herange-
wachsen sein wird. Der Erzieher formt also die Glieder
der Gesellschaft von morgen.
Diese Tatsache wird deutlich und klar erkannt im heuti-
gen Erziehungswesen Rußlands, wo man sich sehr klar
darüber ist, daß die Frage der Bildung der kommenden
Generation schlechthin die Existenzfrage des dortigen
Staatswesens ist. Wenn in den Erziehungssystemen des
v/esteuropäischen Kulturkreises, die stärker auf die Aus-
bildung eines freien Individuums hinzielen, die Aufgabe-
stellung der soziologischen Einordnung weniger deutlich
zum Ausdruck kommt, so macht sie sich doch unbewußt
geltend. Denn jeder Aufgabestellung im Erziehungswesen
liegt ein Erziehungsideal zugrunde. Und dieses Erziehungs-
ideal wird bestimmt von einem Wunschbild. Dieses
Wunschbild aber gründet sich auf dem Streben nach stän-
diger Verbesserung und Förderung der menschlichen Ge-
sellschaft und des menschlichen Lebensideals, gleichgültig,
ob der Schwerpunkt mehr auf das Individuum oder mehr
auf die Gemeinschaft gelegt wird. Man möchte die junge
Generation reif und fähig machen, Träger einer besseren
und menschlich weiterentwickelteren Gesellschaft zu wer-
den. Auch hier wieder beleuchtet eine Redewendung das
Gesagte deutlich: „Unsere Kinder sollen es einmal besser
haben als wir."
Aber man würde das Wesen der Erziehung noch nicht
ganz ausdeuten, wenn man ihr diese deutliche, wenn auch
oft unbewußte Zielstrebigkeit zugrundelegt. So gesehen,
erschiene uns die Erziehungsmethode als eine reine Zweck-
form. Aber das ist sie in Wirklichkeit bestimmt nicht. Nicht
nur bei Erziehern, sondern auch in den Erziehungssyste-
men beobachtet man eine große innere Hingabe an die
Erziehungsarbeit als Selbstzweck. Es ist eine Art Arbeits-
freude oder Gestaltungsfreude, ohne deutliche Einstellung
auf das Ziel. Man könnte diese Wesensart der Erziehung
als eine der künstlerischen Gestaltung eng verwandte Ar-
beit bezeichnen, die dem Erzieher besondere Befriedi-
gung und Freude bereitet.
Sprechen wir nun vom Gestaltungsunterricht und seinen
Aufgaben, so müssen wir streng unterscheiden zwischen
dem Gestaltungsunterricht in der Elementarschule und dem
Gestaltungsunterricht in der handwerklichen Berufsausbil-
dung. Wir haben in diesem Heft diese beiden Gebiete
auch gesondert durch Fachleute behandeln lassen. In der
Schule ist der Gestaltungsunterricht ein Teil im größeren
Rahmen des Gesamtunterrichts, während er bei der hand-
werklichen Berufsausbildung der Kernpunkt alles Schulens
und Lernens ist. Man könnte am besten trennen durch die
Bezeichnung „Durchgestaltung" und „Erziehung zur Ge-
staltung".
Damit ist ganz deutlich gesagt, daß in der Schule Zeich-
nen und Gestalten Hilfsmittel oder Bestandteile der Me-
thode der Erziehung zum Menschen sind und in der Be-
rufsausbildung die Gestaltungsfähigkeit Ziel der Erziehung
ist. Hier müssen die beiden Einschränkungen vermerkt
werden, daß für viele Schüler der Gestaltungsunterricht in
der Schule sich später als Vorstufe für ihre Berufsausbil-
dung erweisen kann und daß bei der Handwerkerausbil-
dung die gestalterische Arbeit auch menschlich erzieherisch
wirken soll.
In der letzten Zeit ist in der Schule die einseitige Er-
ziehung und Ausbildung der intellektuellen Fähigkeiten
zugunsten eines breiteren Erziehungsideals gewichen. Die
Ausbildung der körperlichen Fähigkeiten durch Turnen und
Sport nimmt einen größeren Raum ein. Ein gut und richtig
geleiteter Gestaltungsunterricht müßte neben den Auf-
gaben, die hier im folgenden noch behandelt werden
sollen, es sich auch angelegen sein lassen, körperliche
manuelle, sagen wir ruhig handwerkliche Fähigkeiten,
mehr zu betonen. Die Disziplinierung dieser Fähigkeiten
wird ja von Turnen und Sport nicht erfaßt. Walter Dexel
behandelt in seinem Aufsatz hier im Heft nachdrücklich
diese Ausbildungen manueller technischer Fähigkeiten, die
zugleich das Gefühl für Materialwerte und Sinn für solide
Arbeit schärfen. Wir sagten also ganz kurz, daß in der
heutigen Schule neben die Ausbildung der intellektuellen
Fähigkeiten die Ausbildung der körperlichen tritt und daß
es möglich ist, diese Ausbildung körperlicher Fähigkeiten
durch den Gestaltungsunterricht zu erweitern und zu ver-
feinern. Neben die Ausbildung dieser beiden Gruppen
von Fähigkeiten muß eine systematische Erziehung der
Empfindungsfähigkeiten treten. Und hier liegt die eigent-
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