Ein Volk, das nicht baut, stirbt!
ALEXANDER SCH WA B
Die Fachpresse des Baugewerbes hallt wider von
Klagerufen der beschäftigungslosen Unternehmer, der
Prozentsatz der arbeitslosen Baufacharbeiter ist höher
als jemals. In den Wohnvierteln der deutschen Groß-
städte ist kaum ein Haus ohne Vermietungsplakat, und
die Spediteure wissen nicht, wie sie zum 1. April die
Masse von Hausrat befördern sollen, dessen Besitzer der
billigeren Miete zustreben. In der Dunkelheit, die unser
künftiges Schicksal umfängt, liegt ein besonders tiefer
Schlagschatten auf der Zukunft aller, die mit dem Bauen
zu tun haben, und das ist mindestens ein Fünftel der
deutschen Bevölkerung, da vom Einkommen der physi-
schen Steuerzahler etwa ein Fünftel für Mieten ausge-
geben wird.
Inzwischen breitet sich der Niedergang des wirtschaft-
lichen Lebens weiter um die Erde herum aus, die bürger-
liche Welt insgesamt scheint bedroht, alle ihre Gelehrten
sprechen aus, nur die Wiederherstellung der freien inter-
nationalen Kapital- und Warenbewegung könne den
Umschwung zum Besseren bringen, alle ihre Regierungen
sagen, wenn sie im Wirtschaftskomitee des Völkerbundes
beisammen sitzen, dasselbe, und tun, sobald sie zu Hause
sind, das Gegenteil.
Den großen und kleinen Finanzmächten der Welt
steckt noch die Erfahrung in den Knochen, die sie mit
ihrem nach Deutschland gegebenen Geld haben machen
müssen: sie können es zunächst nicht wiederbekommen,
und sie sind gezwungen, stillzuhalten und den kranken
Schuldner zu schonen.
Dies ist die Lage, in der man vom Ausland her mit
Fingern auf Deutschlands Neubauten weist, auf die
Wohnsiedlungen, die Fabriken, die Schulen, Bäder,
Sporthallen, Straßen und Bahnen, und sich zuflüstert:
Seht, sie haben unser gutes Geld verbaut. Anstatt da-
mit Geschäfte zu machen, an denen wir mitverdienen
wollten, haben sie es festgelegt, und wir haben das
Nachsehen.
Diese Anklage auf Verschwendung, um
nicht zu sagen auf betrügerische Verschwendung, wird in
Deutschland viel zuwenig beachtet. Man hat bisher nicht
verstanden, wie nötig es ist, darauf zu antworten, weil
man nicht weiß, welche ungeheure Verbreitung diese
Anklage im Ausland bereits gefunden hat. Da gibt es
z. B. einen Artikel des Amerikaners Garet G a r r e 11, er-
schienen Ende September in der Saturday Evening Post
und schon damit in einer Millionenauflage verbreitet.
Innerhalb einer äußerst einseitigen, aber brillant ge-
schriebenen Polemik gegen die deutsche Reparations-
und Anleihepolitik erhebt Garrett speziell die Anklage
auf Verschwendung. Man muß das lesen, zumal da
dieser Aufsatz mit Hilfe der amerikanischen chemischen
Großindustrie — vermutlich aus dem Bedürfnis einer
kreditpolitischen Auseinandersetzung mit den eigenen
Banken — in weiteren Millionen von Exemplaren in der
ganzen Welt verbreitet worden ist:
„Das geliehene Geld wurde auf dreierlei Art wieder
ausgegeben, einmal für Wohnungsbauten aller Art;
zweitens für wirtschaftliche Betriebe, für Industriebauten
und -einrichtungen, Umbauten, Rationalisieren, Vergrö-
ßern; drittens für soziale öffentliche Bauten, Parks,
Bäder, Erholungsheime, Stadions, Ausstellungshallen,
neue Rathäuser, Postgebäude, Landstraßen, selbst Denk-
mäler. Das Bauen wurde zur Leidenschaft. Im Jahre
1928 wurden 310 000 neue Wohnungen gebaut, 1929 so-
gar 330 000. Die Mehrzahl der Wohnungen war für Ge-
haltsempfänger, Staatsangestellte, Familien mit mittel-
mäßigem Einkommen bestimmt. So entstanden nach dem
Massenprinzip die Siedlungen: Arbeitersiedlungen, Sied-
lungen für Eisenbahnbeamte und -angestellte, Siedlungen
für Postbeamte, Siedlungen für Unverheiratete, ebenso
Siedlungen in bevorzugten Gegenden für die Besser-
gestellten. Das ganze Siedlungswerk ist erstaunlich, ge-
waltig, nur aus der Vogelschau kann man seine Bedeu-
tung ermessen, denn die meisten Siedlungen haben die
Ausdehnung einer Stadt. Man müßte endlose Entfer-
nungen zurücklegen, um die Orte von unten zu be-
sichtigen, denn die Siedlungen sind ausgedehnt angelegt
und auf neuem Baugrund errichtet. Die Städte selbst
sind nicht umgebaut, sie haben sich nicht viel verändert.
Man reißt in Deutschland nicht so häufig alte Häuser
nieder, um neue auf den Platz zu setzen, sondern nimmt
für Neubauten neuen Baugrund. Deshalb sind alle diese
Siedlungen am Außengürtel der Städte.
Die Bauleidenschaft ging über das Maß des Notwen-
digen weit hinaus, wurde verschwenderisch, experimen-
tal, sportmäßig. Neue Zeiten, neues Material, neue
Formen, neue Maßstäbe, neue Ziele, Kirchen, ganz aus
Stahl und Glas. Extremer Modernismus in Villen,
Leichenhäusern, Friedhofshallen, Hotels, Schulen, Wolken-
kratzern, Kauf- und Geschäftshäusern. Es war ein Feste-
feiern für die Architekten."
Unter den wenigen Antworten, die Garrett in Deutsch-
land gefunden hat, ist besonders bemerkenswert ein Auf-
satz des Schweizer Städtebauers Martin M ä c h I e r in
der Zeitschrift „Der Ring". Mächler erklärt zunächst:
„Garretts Behauptungen sind ein Spiegel, weniger der
Tatsachen in ihrer Gesamtheit, als vielmehr eines be-
stimmten Aktes deutscher Unaufmerksamkeit. Wenn wir
zutreffend unterrichtet sind, so spiegeln sie im wesent-
lichen den Glanz der Berliner Bauausstellung vom
Sommer 1931, die selber nur ein Zerrspiegel der Ent-
wicklungsperiode war, die in ihr dargestellt werden
sollte. Jedenfalls hat Garrett offenbar niemals etwas
gesehen von der Kehrseite des deutschen Bau-
glanzes, von der Wohnungsnot seit dem Weltkriege,
dem immer schlimmer werdenden Wohnungselencl, den
völlig veralteten Arbeitsplätzen der Arbeiterschaft und
rückständigen Betrieben der Unternehmer, die erneuert
und modernisiert werden mußten, wenn der Industrie-
staat Deutschland auch nur einigermaßen wieder leistungs-
und wettbewerbsfähig werden sollte. Garretts Darstel-
lungen zeigen nichts von den gewaltigen Anstrengungen,
die gemacht wurden und gemacht werden mußten, um die
sozialen Zersetzungsherde inmitten der Großstädte aus-
zumerzen, die in diesen Herden wohnende Bevölkerung
auf das wenige noch freie Land zu evakuieren und die
Stadtkerne der Großstädte als brauchbare Arbeitsplätze
für den so dringend notwendigen Handel einzurichten.
Die Bedeutung des deutschen Siedlungswerkes — nahezu
65 Millionen Menschen sollen auf einer vollkommen un-
66
ALEXANDER SCH WA B
Die Fachpresse des Baugewerbes hallt wider von
Klagerufen der beschäftigungslosen Unternehmer, der
Prozentsatz der arbeitslosen Baufacharbeiter ist höher
als jemals. In den Wohnvierteln der deutschen Groß-
städte ist kaum ein Haus ohne Vermietungsplakat, und
die Spediteure wissen nicht, wie sie zum 1. April die
Masse von Hausrat befördern sollen, dessen Besitzer der
billigeren Miete zustreben. In der Dunkelheit, die unser
künftiges Schicksal umfängt, liegt ein besonders tiefer
Schlagschatten auf der Zukunft aller, die mit dem Bauen
zu tun haben, und das ist mindestens ein Fünftel der
deutschen Bevölkerung, da vom Einkommen der physi-
schen Steuerzahler etwa ein Fünftel für Mieten ausge-
geben wird.
Inzwischen breitet sich der Niedergang des wirtschaft-
lichen Lebens weiter um die Erde herum aus, die bürger-
liche Welt insgesamt scheint bedroht, alle ihre Gelehrten
sprechen aus, nur die Wiederherstellung der freien inter-
nationalen Kapital- und Warenbewegung könne den
Umschwung zum Besseren bringen, alle ihre Regierungen
sagen, wenn sie im Wirtschaftskomitee des Völkerbundes
beisammen sitzen, dasselbe, und tun, sobald sie zu Hause
sind, das Gegenteil.
Den großen und kleinen Finanzmächten der Welt
steckt noch die Erfahrung in den Knochen, die sie mit
ihrem nach Deutschland gegebenen Geld haben machen
müssen: sie können es zunächst nicht wiederbekommen,
und sie sind gezwungen, stillzuhalten und den kranken
Schuldner zu schonen.
Dies ist die Lage, in der man vom Ausland her mit
Fingern auf Deutschlands Neubauten weist, auf die
Wohnsiedlungen, die Fabriken, die Schulen, Bäder,
Sporthallen, Straßen und Bahnen, und sich zuflüstert:
Seht, sie haben unser gutes Geld verbaut. Anstatt da-
mit Geschäfte zu machen, an denen wir mitverdienen
wollten, haben sie es festgelegt, und wir haben das
Nachsehen.
Diese Anklage auf Verschwendung, um
nicht zu sagen auf betrügerische Verschwendung, wird in
Deutschland viel zuwenig beachtet. Man hat bisher nicht
verstanden, wie nötig es ist, darauf zu antworten, weil
man nicht weiß, welche ungeheure Verbreitung diese
Anklage im Ausland bereits gefunden hat. Da gibt es
z. B. einen Artikel des Amerikaners Garet G a r r e 11, er-
schienen Ende September in der Saturday Evening Post
und schon damit in einer Millionenauflage verbreitet.
Innerhalb einer äußerst einseitigen, aber brillant ge-
schriebenen Polemik gegen die deutsche Reparations-
und Anleihepolitik erhebt Garrett speziell die Anklage
auf Verschwendung. Man muß das lesen, zumal da
dieser Aufsatz mit Hilfe der amerikanischen chemischen
Großindustrie — vermutlich aus dem Bedürfnis einer
kreditpolitischen Auseinandersetzung mit den eigenen
Banken — in weiteren Millionen von Exemplaren in der
ganzen Welt verbreitet worden ist:
„Das geliehene Geld wurde auf dreierlei Art wieder
ausgegeben, einmal für Wohnungsbauten aller Art;
zweitens für wirtschaftliche Betriebe, für Industriebauten
und -einrichtungen, Umbauten, Rationalisieren, Vergrö-
ßern; drittens für soziale öffentliche Bauten, Parks,
Bäder, Erholungsheime, Stadions, Ausstellungshallen,
neue Rathäuser, Postgebäude, Landstraßen, selbst Denk-
mäler. Das Bauen wurde zur Leidenschaft. Im Jahre
1928 wurden 310 000 neue Wohnungen gebaut, 1929 so-
gar 330 000. Die Mehrzahl der Wohnungen war für Ge-
haltsempfänger, Staatsangestellte, Familien mit mittel-
mäßigem Einkommen bestimmt. So entstanden nach dem
Massenprinzip die Siedlungen: Arbeitersiedlungen, Sied-
lungen für Eisenbahnbeamte und -angestellte, Siedlungen
für Postbeamte, Siedlungen für Unverheiratete, ebenso
Siedlungen in bevorzugten Gegenden für die Besser-
gestellten. Das ganze Siedlungswerk ist erstaunlich, ge-
waltig, nur aus der Vogelschau kann man seine Bedeu-
tung ermessen, denn die meisten Siedlungen haben die
Ausdehnung einer Stadt. Man müßte endlose Entfer-
nungen zurücklegen, um die Orte von unten zu be-
sichtigen, denn die Siedlungen sind ausgedehnt angelegt
und auf neuem Baugrund errichtet. Die Städte selbst
sind nicht umgebaut, sie haben sich nicht viel verändert.
Man reißt in Deutschland nicht so häufig alte Häuser
nieder, um neue auf den Platz zu setzen, sondern nimmt
für Neubauten neuen Baugrund. Deshalb sind alle diese
Siedlungen am Außengürtel der Städte.
Die Bauleidenschaft ging über das Maß des Notwen-
digen weit hinaus, wurde verschwenderisch, experimen-
tal, sportmäßig. Neue Zeiten, neues Material, neue
Formen, neue Maßstäbe, neue Ziele, Kirchen, ganz aus
Stahl und Glas. Extremer Modernismus in Villen,
Leichenhäusern, Friedhofshallen, Hotels, Schulen, Wolken-
kratzern, Kauf- und Geschäftshäusern. Es war ein Feste-
feiern für die Architekten."
Unter den wenigen Antworten, die Garrett in Deutsch-
land gefunden hat, ist besonders bemerkenswert ein Auf-
satz des Schweizer Städtebauers Martin M ä c h I e r in
der Zeitschrift „Der Ring". Mächler erklärt zunächst:
„Garretts Behauptungen sind ein Spiegel, weniger der
Tatsachen in ihrer Gesamtheit, als vielmehr eines be-
stimmten Aktes deutscher Unaufmerksamkeit. Wenn wir
zutreffend unterrichtet sind, so spiegeln sie im wesent-
lichen den Glanz der Berliner Bauausstellung vom
Sommer 1931, die selber nur ein Zerrspiegel der Ent-
wicklungsperiode war, die in ihr dargestellt werden
sollte. Jedenfalls hat Garrett offenbar niemals etwas
gesehen von der Kehrseite des deutschen Bau-
glanzes, von der Wohnungsnot seit dem Weltkriege,
dem immer schlimmer werdenden Wohnungselencl, den
völlig veralteten Arbeitsplätzen der Arbeiterschaft und
rückständigen Betrieben der Unternehmer, die erneuert
und modernisiert werden mußten, wenn der Industrie-
staat Deutschland auch nur einigermaßen wieder leistungs-
und wettbewerbsfähig werden sollte. Garretts Darstel-
lungen zeigen nichts von den gewaltigen Anstrengungen,
die gemacht wurden und gemacht werden mußten, um die
sozialen Zersetzungsherde inmitten der Großstädte aus-
zumerzen, die in diesen Herden wohnende Bevölkerung
auf das wenige noch freie Land zu evakuieren und die
Stadtkerne der Großstädte als brauchbare Arbeitsplätze
für den so dringend notwendigen Handel einzurichten.
Die Bedeutung des deutschen Siedlungswerkes — nahezu
65 Millionen Menschen sollen auf einer vollkommen un-
66