leistet werden kann. Und diese formende Kraft des
Lebens ist seit über hundert Jahren immer schwächer
geworden. Die „entformenden" Tendenzen, die zu
einer allmählichen Auflösung aller festen Bindungen
geführt haben, sind daran schuld, daß der Einzel-
mensch heute so sehr wie noch niemals früher für die
„Bildung" seines Menschentums auf sich selber ange-
wiesen ist. Das, was in früheren Epochen den „Stän-
den" ohne weiteres gelang: die Formung jedes Ein-
zelnen, der zu ihnen gehörte, zu einem „abgerunde-
ten", in sich geschlossenen „Gebilde" — wir erleben
es heute noch in einer letzten Phase bei dem am läng-
sten intakt gebliebenen Bauernstande, der aber offen-
bar auch allmählich seiner Auflösung entgegengeht
—, das kann heute keinem „Berufe" und keiner wie
immer gearteten „Beschäftigung" gelingen. Und auch
die Schule muß an dieser Aufgabe scheitern, wenn sie
sich auch noch so sehr um die Pflege des rein Mensch-
lichen bemüht. Am ehesten kann die Formung des
Menschen der Schule immer noch da gelingen, wo
diese eben nicht nur Schule, sondern eine das ganze
Leben der Jugend umfassende Gemeinschaft ist, wie
sie Goethe in der Utopie der „pädagogischen Pro-
vinz" in „Wilhelm Meisters Wanderjahren" gefordert
hat. Daß diese Utopie in manchen unserer „Land-
erziehungsheime" schon beinahe Wirklichkeit gewor-
den ist, ist eine Tatsache von großer Bedeutung. Nur
bleibt diese Form der Menschenbildung notwendig
auf kleine Kreise unseres Volkes beschränkt und kann
sich deshalb nicht so allgemein auswirken, wie es
nötig wäre.
Mit diesen Feststellungen soll keineswegs einem
„Kulturpessimismus" im Sinne Spenglers das Wort ge-
redet werden. Die Menschheit muß durch diese Phase
der „Entformung" hindurch, — aber es hat den An-
schein, als wäre diese Phase bald überwunden, als
seien die neuen Bindungen bereits in den ersten Um-
rissen sichtbar. Freilich — welcher Art diese Bindun-
gen sein werden, davon hängt alles ab, und sicherlich
läßt manches von dem, was man heute ahnt, das
Schlimmste befürchten. Von diesen Befürchtungen und
von den positiven Möglichkeiten wollen wir vielleicht
ein anderes Mal reden. Heute sei nur das eine be-
tont: auch wenn wir daran verzweifeln müssen, daß
eine wie immer gestaltete Schule jemals für die Men-
schenbildung das wird leisten können, was eigentlich
Funktion des Lebens und der Kultur sein sollte, werden
wir uns stets um eine Gestaltung der Schule bemühen
müssen, die die lebendigen Kräfte frei macht. Denn nur
aus diesen können neue Bindungen entstehen, die der
Menschheit nicht zum Verderben, sondern zum Heil
gereichen. Diese lebendigen Kräfte aber waren immer
und werden immer sein Natur und Geist. Dem
„Geist" zu dienen hat die Schule stets versucht, wenn
auch oft mit bedenklichen oder schwachen Mitteln.
Wie sie auch der „Natur" dienen kann, hat mit man-
chen anderen auch Kerschensteiner gezeigt. Wenn er
an die Stelle der alten Lernschule die „Arbeitsschule"
setzen wollte und der Ausbildung des gewerblichen
Nachwuchses besondere Sorgfalt widmete, so meinte
et damit nicht das Handwerk als letztes Ziel, sondern
etwas viel allgemeineres: die Arbeit an einem Natur-
stoff als unmittelbare Betätigung des Menschen, der
damit seine Naturverbundenheit erhält oder wieder-
gewinnt, — also die Erziehung zur „Tat", so wie
Goethe dieses Wort verstanden hat.
Zur Problematik des Gestaltungsunterrichtes
in der Volksschule
WALTER DEXEL
Mit der Veröffentlichung dieses Aufsatzes wollen wir nicht zum Ausdruck bringen, daß wir mit der gleichen Schärfe
wie der Verfasser die Methoden des modernen Zeichenunterrichts verdammen. Wir glauben nach wie vor, daß der
„Genius im Kinde" eine der Entdeckungen unserer Zeit ist, an deren Bedeutung auch der Mißbrauch nichts ändert, der
da und dort damit getrieben wird. (Daß von diesem „Genius" ein Künstler vom Range Paul Klees tief berührt wurde —
nicht nur umgekehrt! — spricht immerhin für die Bedeutung dieser Entdeckung.) Wohl aber halten wir es für sehr
wichtig, daß einmal von berufener Seite auf die Wichtigkeit der anderen, mehr praktisch-realen Seite dieses Unter-
richts hingewiesen wird, — in einem Augenblick, in dem gerade dem „Werkunterricht" an den Schulen durch die Spar-
maßnahmen der Garaus gemacht werden soll. Die Schriftleitung
Fähigkeiten werden vorausgesetzt, sie sollen zu Fertig-
keiten werden — dies ist der Zweck aller Erziehung.
(Goethe.)
Wie nimmt sich der moderne Gestaltungsunterricht im
Lichte dieser Erkenntnis aus? Fraglos sehr betrüblich. Mit
welchen Fertigkeiten auf darstellerischem Gebiet entläßt
die Volksschule die Vierzehnjährigen? — denn Fähigkeiten
kann sie ihnen nicht geben. Zwar ist es zur Zeit Mode, zu
behaupten, daß in jedem Kinde die erstaunlichsten gestal-
terischen Fähigkeiten stecken, und es mehren sich die Aus-
stellungen und Veröffentlichungen von Kinderarbeiten, die
den Beweis hierfür antreten wollen. Für die Mehrzahl die-
106
Lebens ist seit über hundert Jahren immer schwächer
geworden. Die „entformenden" Tendenzen, die zu
einer allmählichen Auflösung aller festen Bindungen
geführt haben, sind daran schuld, daß der Einzel-
mensch heute so sehr wie noch niemals früher für die
„Bildung" seines Menschentums auf sich selber ange-
wiesen ist. Das, was in früheren Epochen den „Stän-
den" ohne weiteres gelang: die Formung jedes Ein-
zelnen, der zu ihnen gehörte, zu einem „abgerunde-
ten", in sich geschlossenen „Gebilde" — wir erleben
es heute noch in einer letzten Phase bei dem am läng-
sten intakt gebliebenen Bauernstande, der aber offen-
bar auch allmählich seiner Auflösung entgegengeht
—, das kann heute keinem „Berufe" und keiner wie
immer gearteten „Beschäftigung" gelingen. Und auch
die Schule muß an dieser Aufgabe scheitern, wenn sie
sich auch noch so sehr um die Pflege des rein Mensch-
lichen bemüht. Am ehesten kann die Formung des
Menschen der Schule immer noch da gelingen, wo
diese eben nicht nur Schule, sondern eine das ganze
Leben der Jugend umfassende Gemeinschaft ist, wie
sie Goethe in der Utopie der „pädagogischen Pro-
vinz" in „Wilhelm Meisters Wanderjahren" gefordert
hat. Daß diese Utopie in manchen unserer „Land-
erziehungsheime" schon beinahe Wirklichkeit gewor-
den ist, ist eine Tatsache von großer Bedeutung. Nur
bleibt diese Form der Menschenbildung notwendig
auf kleine Kreise unseres Volkes beschränkt und kann
sich deshalb nicht so allgemein auswirken, wie es
nötig wäre.
Mit diesen Feststellungen soll keineswegs einem
„Kulturpessimismus" im Sinne Spenglers das Wort ge-
redet werden. Die Menschheit muß durch diese Phase
der „Entformung" hindurch, — aber es hat den An-
schein, als wäre diese Phase bald überwunden, als
seien die neuen Bindungen bereits in den ersten Um-
rissen sichtbar. Freilich — welcher Art diese Bindun-
gen sein werden, davon hängt alles ab, und sicherlich
läßt manches von dem, was man heute ahnt, das
Schlimmste befürchten. Von diesen Befürchtungen und
von den positiven Möglichkeiten wollen wir vielleicht
ein anderes Mal reden. Heute sei nur das eine be-
tont: auch wenn wir daran verzweifeln müssen, daß
eine wie immer gestaltete Schule jemals für die Men-
schenbildung das wird leisten können, was eigentlich
Funktion des Lebens und der Kultur sein sollte, werden
wir uns stets um eine Gestaltung der Schule bemühen
müssen, die die lebendigen Kräfte frei macht. Denn nur
aus diesen können neue Bindungen entstehen, die der
Menschheit nicht zum Verderben, sondern zum Heil
gereichen. Diese lebendigen Kräfte aber waren immer
und werden immer sein Natur und Geist. Dem
„Geist" zu dienen hat die Schule stets versucht, wenn
auch oft mit bedenklichen oder schwachen Mitteln.
Wie sie auch der „Natur" dienen kann, hat mit man-
chen anderen auch Kerschensteiner gezeigt. Wenn er
an die Stelle der alten Lernschule die „Arbeitsschule"
setzen wollte und der Ausbildung des gewerblichen
Nachwuchses besondere Sorgfalt widmete, so meinte
et damit nicht das Handwerk als letztes Ziel, sondern
etwas viel allgemeineres: die Arbeit an einem Natur-
stoff als unmittelbare Betätigung des Menschen, der
damit seine Naturverbundenheit erhält oder wieder-
gewinnt, — also die Erziehung zur „Tat", so wie
Goethe dieses Wort verstanden hat.
Zur Problematik des Gestaltungsunterrichtes
in der Volksschule
WALTER DEXEL
Mit der Veröffentlichung dieses Aufsatzes wollen wir nicht zum Ausdruck bringen, daß wir mit der gleichen Schärfe
wie der Verfasser die Methoden des modernen Zeichenunterrichts verdammen. Wir glauben nach wie vor, daß der
„Genius im Kinde" eine der Entdeckungen unserer Zeit ist, an deren Bedeutung auch der Mißbrauch nichts ändert, der
da und dort damit getrieben wird. (Daß von diesem „Genius" ein Künstler vom Range Paul Klees tief berührt wurde —
nicht nur umgekehrt! — spricht immerhin für die Bedeutung dieser Entdeckung.) Wohl aber halten wir es für sehr
wichtig, daß einmal von berufener Seite auf die Wichtigkeit der anderen, mehr praktisch-realen Seite dieses Unter-
richts hingewiesen wird, — in einem Augenblick, in dem gerade dem „Werkunterricht" an den Schulen durch die Spar-
maßnahmen der Garaus gemacht werden soll. Die Schriftleitung
Fähigkeiten werden vorausgesetzt, sie sollen zu Fertig-
keiten werden — dies ist der Zweck aller Erziehung.
(Goethe.)
Wie nimmt sich der moderne Gestaltungsunterricht im
Lichte dieser Erkenntnis aus? Fraglos sehr betrüblich. Mit
welchen Fertigkeiten auf darstellerischem Gebiet entläßt
die Volksschule die Vierzehnjährigen? — denn Fähigkeiten
kann sie ihnen nicht geben. Zwar ist es zur Zeit Mode, zu
behaupten, daß in jedem Kinde die erstaunlichsten gestal-
terischen Fähigkeiten stecken, und es mehren sich die Aus-
stellungen und Veröffentlichungen von Kinderarbeiten, die
den Beweis hierfür antreten wollen. Für die Mehrzahl die-
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