6 Jahre moderne Architektur-Bewegung in Italien
E. H. ZI LC H
Zwei Möglichkeiten hat ein Stiefkind. Entweder läßt es
sich geduldig solange herumstoßen, verfolgen, verächt-
lich machen, bis es sich stark genug fühlt, den Drangsalen
sich mit eigener Kraft zu widersetzen — man nennt es
dann gewöhnlich „erwachsen" — oder es überzeugt früh-
zeitig durch die Beharrlichkeit einer reellen Beweisführung
seine Widersacher. Oftmals findet es auch einen Helfer
oder Protektor, der sich seiner annimmt und möglichst
den Weg für eine Gleichberechtigung ebnet. — Seit-
dem Mussolini sein Herz für die junge moderne Archi-
tektur entdeckt hat (es war anläßlich der neueren Aus-
stellungen der MIAR, einer Vereinigung aller jungen Kräfte
des Neuen Bauens, der er offiziell beiwohnte und seine
Bewunderung für die Leistungen der Modernen zum Aus-
druck brachte), hat wenigstens die amtliche Bekämpfung
dieser Bewegung nachgelassen.
Und wie zufällig läßt es sich auch hier wieder mit dem
Stiefkind vergleichen: nach genau sechs Jahren ist ihr die
erste Berührung mit der Offiziosität möglich, darf sie in
die Schule gehen, in diesem Fall (der Architekturbewe-
gung) „Schule machen". Die Schöpfungen der modernen
Architekten haben auch die Behörden und ihre leitenden
Persönlichkeiten von der notwendigen Reorganisation des
bisherigen italienischen Bauens überzeugt. Dennoch läßt
das weitere fröhliche Latinisieren der „echt römischen
Baumeister des XX. Jahrhunderts" das als aufrichtig be-
grüßte Bekenntnis zu der modernen Richtung stark an-
zweifeln. In diesem wie im vorigen Jahr sind in erschrek-
kender Anzahl Bauwerke entstanden, die in widerwärtig-
ster Weise einem Neuklassizismus huldigen und Stil-
maskeraden bis zur Perversität aufführen.
Zugegeben, von heute auf morgen läßt sich wenig än-
dern, und zuletzt in der Architektur, doch kann unmöglich
von den höchsten Stellen derart Gegensätzliches auf die
eine Basis „Baukunst" gebracht werden und somit zur
Irreführung eines sonst zum starken Selbstbewußtsein an-
gehaltenen Volkes ausarten.
Wenn diese Neuklassiker wenigstens stilrein wären,
dann würde man ihnen einen guten Teil ihrer sogenann-
ten volksbewußten Bauweise verzeihen. Sie überwerfen
sich aber mit mittelmeergesalzenen Stilmischungen und es
sieht fast aus, als ob unter ihnen ein Dauerwettbewerb
für beste Anwendungsmöglichkeit von recht zahlreichen
Bauarten und Kunstformen eingetreten wäre.
Die erste energische Bewegung für eine neue italienische
Baukunst ging von Oberitalien aus. Dort bildeten sich im
Jahre 1926 Gruppen von jüngeren Architekten, die sich in
geschickter Weise mit kleineren Ausstellungen von Ent-
würfen und mit behutsam angebrachten Vorschlägen für
ein modernes Bauen einsetzten. Allerdings fanden sie
anfangs mehr Beachtung im nördlichen Europa als in
ihrem eigenen Lande (u. a. konnten sie auf der Werk-
bundausstellung in Stuttgart 1927 ausstellen). Erst als es
ihnen gelang, mit Hilfe einiger Mäzene mit kleinen Aus-
stellungsbauten auf Messen und ähnlichen Veranstaltun-
gen Italiens ihre Richtung praktisch zu vertreten, wurden
auch italienische „Interessenten" wach; also vorerst nur
solche, die sie mit aller Kraft zu bekämpfen versuchten
und alle erdenklichen, auch politische, Mittel heran-
zogen, um ihren „traditionellen Baustil" rein zu halten
bzw. zu verschonen von der Rationalisierung der Mo-
dernen. Schlagworte wie „Tipo tedesco" oder „furore
tedesco" wurden auf Seiten der Architektur-Patrioten laut.
Jedoch war die nun der modernen Bewegung offiziell
geschenkte Beachtung nicht mehr wegzuleugnen und auch
die Presse bemächtigte sich einer Kritik, die — mochte sie
für oder wider sein — das Notwendige zur Propagierung
des neuen, gesunden Baugedankens beitrug. Deswegen
kann von einer Sanktionierung der neuen Sachlichkeit im
Bauwesen keine Rede sein. Im Gegenteil, es hat den Ein-
druck als ob nunmehr der Neuklassizismus der „behörd-
liche Stil" und modernes Bauen „auch erlaubt" sei. Sonst
hätten nicht in den letzten Jahren Bauten wie der Mailän-
der Hauptbahnhof aufgeführt und ähnliche Projekte in
diesen Monaten genehmigt werden dürfen.
Der neue Hauptbahnhof in Mailand, 1932. Haupteingangsseite
Architekt Ulisse Stacchini | La nouvelle gare centrale ä Milan;
inauguree en 1932. L'entree principale / New Central Station Milan,
1932. Main entrance elevation
......■■..........f.JJ^gi»,
Hauptblockstelle / La cabine du poste central d'aiguillage / Main
block controls
Die Bahnhofshallen in Stahlkonstruktion / Les halls de la gare, ä char-
pente metallique / Inferior of the Station. Steel construction
363
E. H. ZI LC H
Zwei Möglichkeiten hat ein Stiefkind. Entweder läßt es
sich geduldig solange herumstoßen, verfolgen, verächt-
lich machen, bis es sich stark genug fühlt, den Drangsalen
sich mit eigener Kraft zu widersetzen — man nennt es
dann gewöhnlich „erwachsen" — oder es überzeugt früh-
zeitig durch die Beharrlichkeit einer reellen Beweisführung
seine Widersacher. Oftmals findet es auch einen Helfer
oder Protektor, der sich seiner annimmt und möglichst
den Weg für eine Gleichberechtigung ebnet. — Seit-
dem Mussolini sein Herz für die junge moderne Archi-
tektur entdeckt hat (es war anläßlich der neueren Aus-
stellungen der MIAR, einer Vereinigung aller jungen Kräfte
des Neuen Bauens, der er offiziell beiwohnte und seine
Bewunderung für die Leistungen der Modernen zum Aus-
druck brachte), hat wenigstens die amtliche Bekämpfung
dieser Bewegung nachgelassen.
Und wie zufällig läßt es sich auch hier wieder mit dem
Stiefkind vergleichen: nach genau sechs Jahren ist ihr die
erste Berührung mit der Offiziosität möglich, darf sie in
die Schule gehen, in diesem Fall (der Architekturbewe-
gung) „Schule machen". Die Schöpfungen der modernen
Architekten haben auch die Behörden und ihre leitenden
Persönlichkeiten von der notwendigen Reorganisation des
bisherigen italienischen Bauens überzeugt. Dennoch läßt
das weitere fröhliche Latinisieren der „echt römischen
Baumeister des XX. Jahrhunderts" das als aufrichtig be-
grüßte Bekenntnis zu der modernen Richtung stark an-
zweifeln. In diesem wie im vorigen Jahr sind in erschrek-
kender Anzahl Bauwerke entstanden, die in widerwärtig-
ster Weise einem Neuklassizismus huldigen und Stil-
maskeraden bis zur Perversität aufführen.
Zugegeben, von heute auf morgen läßt sich wenig än-
dern, und zuletzt in der Architektur, doch kann unmöglich
von den höchsten Stellen derart Gegensätzliches auf die
eine Basis „Baukunst" gebracht werden und somit zur
Irreführung eines sonst zum starken Selbstbewußtsein an-
gehaltenen Volkes ausarten.
Wenn diese Neuklassiker wenigstens stilrein wären,
dann würde man ihnen einen guten Teil ihrer sogenann-
ten volksbewußten Bauweise verzeihen. Sie überwerfen
sich aber mit mittelmeergesalzenen Stilmischungen und es
sieht fast aus, als ob unter ihnen ein Dauerwettbewerb
für beste Anwendungsmöglichkeit von recht zahlreichen
Bauarten und Kunstformen eingetreten wäre.
Die erste energische Bewegung für eine neue italienische
Baukunst ging von Oberitalien aus. Dort bildeten sich im
Jahre 1926 Gruppen von jüngeren Architekten, die sich in
geschickter Weise mit kleineren Ausstellungen von Ent-
würfen und mit behutsam angebrachten Vorschlägen für
ein modernes Bauen einsetzten. Allerdings fanden sie
anfangs mehr Beachtung im nördlichen Europa als in
ihrem eigenen Lande (u. a. konnten sie auf der Werk-
bundausstellung in Stuttgart 1927 ausstellen). Erst als es
ihnen gelang, mit Hilfe einiger Mäzene mit kleinen Aus-
stellungsbauten auf Messen und ähnlichen Veranstaltun-
gen Italiens ihre Richtung praktisch zu vertreten, wurden
auch italienische „Interessenten" wach; also vorerst nur
solche, die sie mit aller Kraft zu bekämpfen versuchten
und alle erdenklichen, auch politische, Mittel heran-
zogen, um ihren „traditionellen Baustil" rein zu halten
bzw. zu verschonen von der Rationalisierung der Mo-
dernen. Schlagworte wie „Tipo tedesco" oder „furore
tedesco" wurden auf Seiten der Architektur-Patrioten laut.
Jedoch war die nun der modernen Bewegung offiziell
geschenkte Beachtung nicht mehr wegzuleugnen und auch
die Presse bemächtigte sich einer Kritik, die — mochte sie
für oder wider sein — das Notwendige zur Propagierung
des neuen, gesunden Baugedankens beitrug. Deswegen
kann von einer Sanktionierung der neuen Sachlichkeit im
Bauwesen keine Rede sein. Im Gegenteil, es hat den Ein-
druck als ob nunmehr der Neuklassizismus der „behörd-
liche Stil" und modernes Bauen „auch erlaubt" sei. Sonst
hätten nicht in den letzten Jahren Bauten wie der Mailän-
der Hauptbahnhof aufgeführt und ähnliche Projekte in
diesen Monaten genehmigt werden dürfen.
Der neue Hauptbahnhof in Mailand, 1932. Haupteingangsseite
Architekt Ulisse Stacchini | La nouvelle gare centrale ä Milan;
inauguree en 1932. L'entree principale / New Central Station Milan,
1932. Main entrance elevation
......■■..........f.JJ^gi»,
Hauptblockstelle / La cabine du poste central d'aiguillage / Main
block controls
Die Bahnhofshallen in Stahlkonstruktion / Les halls de la gare, ä char-
pente metallique / Inferior of the Station. Steel construction
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