Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 7.1932

DOI article:
Schwab, Alexander: Wirtschaftsfragen zur Erwerbslosensiedlung
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.13707#0030

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
wachsende Industrialisierung der ostasiatischen Gebiete
und übrigens auch Rußlands auf die Dauer noch große
neue Absatzmöglichkeiten für die westeuropäische In-
dustrie und gleichzeitig, in langwierigen Kämpfen, eine
Hebung des Lohnniveaus und des Lebensstandards in
den neuen Industriegebieten bis zu einer Angleichung mit
dem westeuropäischen Standard schaffen wird?

2. Produktivität der Arbeit:

In welchem Grade ist, abgesehen von der weltwirt-
schaftlichen Entwicklung und ihren Störungen, das An-
wachsen der Arbeitslosigkeit auf die steigende Pro-
duktivität der Arbeit zurückzuführen? Mit anderen
Worten: Entsteht aus der zunehmenden Mechanisierung
und aus dem wachsenden Einfluß der wissenschaftlichen
Betriebsführung notwendig eine ständig wachsende
industrielle Reservearmee? Die Kehrseite dieses Pro-
blems ist die Frage der Arbeitszeit: Ist in den
alten Industrieländern — in Fortsetzung der tatsächlichen
geschichtlichen Entwicklung — eine weitere starke Ver-
kürzung der durchschnittlichen Arbeitszeit nötig? Ist sie
andererseits überhaupt möglich im Konkurrenzkampf
gegen die 12—löstündige Arbeitszeit chinesischer und
indischer Fabrikkulis und ihrer Kinder?

3. Kurzschichtensiedlung:

Im Anschluß hieran ergibt sich die Frage: Ist die so-
genannte Kurzschichtensiedlung in einem Umfange mög-
lich, der dem Problem einer Dauerarbeitslosigkeit von
Millionen gerecht wird? Von der Industrie aus gesehen:
Welche Hauptindustrien können sich ohne bedenkliche
Mehrbelastung derart umstellen, daß sie ihre Arbeits-
kräfte nur 4 Stunden täglich oder nur 3—4 Tage wöchent-
lich oder schließlich nur in einer konzentrierten Pro-
duktionsperiode von mehreren Monaten jährlich be-
schäftigen. Vom Arbeiter aus gesehen: Wie kann er
sich bei solcher Art der Beschäftigung durch zusätzliche
Produktion als Siedler den fehlenden Einkommensteil be-
schaffen? Durch landwirtschaftliche oder gärtnerische
Produktion nur für den Eigenbedarf? Oder auch für
den Markt?

4. Agrarische Produktion:

Welche Möglichkeiten der Produktion und des Ab-
satzes für agrarische Erzeugnisse großer Massen von
erwerbslosen Siedlern sind gegeben oder zu erschließen?
Getreideproduktion gar nicht, Fleischproduktion
(Schweine) doch wohl nur in geringem Umfange, haupt-
sächlich Kartoffeln, Gemüse, Obst, Eier. Welches wäre
die Rückwirkung einer derartigen zusätzlichen Massen-
produktion in der Nähe der Städte auf die Landwirt-
schaft, auf die Einfuhr solcher Produkte, auf den deut-
schen Export in die bisherigen Einfuhrländer? Welches
Arbeitsquantum und welche einmaligen und laufenden
Kapitalaufwendungen werden nötig sein, um dem
Siedler aus dieser Produktion zusammen mit dem Ver-
dienst aus industrieller Kurzarbeit seinen Lebensstandard
mindestens zu erhalten? Wie stellen sich, volkswirt-
schaftlich betrachtet, die Gesamtkosten seiner agrarischen
Produkte im Vergleich zu den Kosten entsprechender
Produkte der deutschen oder ausländischen Großland-
wirtschaft?

5. Umstellungskosten :

Je wirkungsvoller die Maßnahme der Erwerbslosen-
siedlung sein soll, je größeren Maßstab sie also an-
nehmen soll, desto mehr steigen die Umstellungskosten,
und zwar vermutlich rascher als in arithmetischer Pro-
gression. Daß Grund und Boden von der öffentlichen
Hand ganz oder fast kostenlos zur Verfügung gestellt
wird, macht dabei nicht viel aus; dieses Land ist meist

nicht in Kultur, bedeutet also stärkere Anfangsbelastung.
Welche Kosten sind für Landaufteilung, Gebäude, Wege
anzusetzen? Welche Kosten ferner für Geräte, Saatgut,
Dünger, Umschulung? Wird es nicht vielleicht für die
Existenzfähigkeit der angesiedelten Erwerbslosen (ganz
abgesehen von der Zielsetzung völliger Autarkie) nötig
sein, zu hochintensiver gärtnerischer Kultur zu kommen?
Sind hierbei die modernen Methoden der Pflanzen-
züchtung, der Bodenfräsung, der Mikrobendüngung an-
wendbar, in welchem Tempo und mit welchen Kosten?

6. Landwirtschaftliche Siedlung:

In welchem Ausmaß ist neben der Kurzschichten-
siedlung (Stadtrandsiedlung) eine landwirtschaftliche Aus-
siedlung von Erwerbslosen möglich oder nötig? (Hier
wäre der ganze Komplex von Fragen zu erörtern, die
mit der landwirtschaftlichen Ansiedlung zusammen-
hängen, wie etwa: Lebensfähigkeit des Großgrund-
besitzes, Getreideversorgung der Städte, Lebensfähig-
keit der Siedlerstellen, Aufteilung bebauten Großgrund-
besitzes oder Erschließung ungenutzter Gebiete, Moore,
Heiden usw.)

7. Menschenmaterial:

Kann man in der Tat in großem Umfange aus Industrie-
arbeitern und Angestellten wieder Landwirte und
Gärtner, wenn auch nur nebenberufliche, machen? Wie
soll die Auswahl vor sich gehen, wie soil ihnen die für
eine rasche Umstellung nötige Schulung gegeben wer-
den? Ist es möglich, irgendeine vernünftige Beziehung
zwischen der Belastung des Arbeitsmarktes der ein-
zelnen Branchen einerseits, der Auswahl des Siedler-
materials andererseits herzustellen? (Zur Arbeit an der
Herstellung von Siedlungshäuschen drängen sich natur-
gemäß vor allem Bauarbeiter; die „natürliche" Auswahl
geht somit am Arbeitsmarkt anderer ebenfalls sehr stark
belasteter Industriezweige vorbei.) Was geschieht mit
den älteren Jahrgängen? Was geschieht mit den be-
rufstätigen, aber arbeitslosen Frauen?

8. Organisation :

Was bisher an ähnlichen Experimenten unternommen
wurde, war und blieb in irgendeiner Weise organisiert,
und zwar scheint die gegebene Organisationsform die
der Genossenschaft zu sein. (Man denke z. B. an die
Kolonie Eden bei Oranienburg im Norden Berlins.) Wie
kann und soll man sich die Abgrenzung zwischen Privat-
besitz und Gemeindebesitz, zwischen Einzelarbeit und
Kooperation in solcher Siedlergenossenschaft vorstellen?
Oder ist die erstrebte „Krisenfestigkeit" auch ohne ge-
nossenschaftliche Organisation zu erreichen? Wie steht
es mit der Erfüllung kommunaler Aufgaben, mit der
Bereitstellung von Schulen, Wasser, Kanalisation, Be-
leuchtung?

9. Städtebau und Verkehrsfrage:

Die räumliche Organisation ist eins der schwierigsten
Probleme. Nur in Ausnahmefällen wird eine Stadtrand-
siedlung möglich sein, ohne daß neue Verkehrsverbin-
dungen geschaffen werden. Wird als Grundtypus die
Nebenerwerbssiedlung mit doppelter Berufstätigkeit des
Siedlers gedacht, so muß die räumliche Anordnung vor
allem auf die Verbindung zwischen den Siedlern und
den für sie in Frage kommenden industriellen Betrieben
Bedacht nehmen. Ist das bei der gegebenen tatsäch-
lichen Lagerung von Betrieben und Güterverkehrsmitteln
einerseits, möglichem Siedlungsgelände andererseits
heute überhaupt in der Mehrzahl der Fälle durchführbar?
Kann man andernfalls so weit gehen, eine stärkere Aus-
siedlung der Industrie in die Randgebiete der Groß-
städte, eine Wanderung der Werkstätten in die Nähe

14
 
Annotationen