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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 7.1932

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Riezler, Walter: Die Kluft
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https://doi.org/10.11588/diglit.13707#0062

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bereitet, die in der Baukunst eher als auf irgend-
einem anderen Gebiete sichtbar wird. Und des-
halb ist es tief bedeutsam, daß gerade heute der
Widerstand gegen das Eindringen der neuen
Formen in die Welt der alten Bauten zu erlahmen
beginnt: nicht das ästhetische Gewissen derer,
die hier zu entscheiden haben, ist erwacht — sie
weichen einer unmittelbaren Lebensmacht, die sie
vielleicht selber noch gar nicht verstehen, oft so-
gar falsch deuten, deren natürlicher Gewalt sie
aber nicht widerstehen können. Wenn heute
festgestellt wird, daß sich Bauten von aus-
gesprochen „moderner" Haltung mit alten Bau-
ten sehr wohl vertragen, so ist das wichtig ge-
nug, denn ohne dieses ästhetische Urteil wäre in
einer Zeit, die alles Ästhetische genau so wichtig
nimmt, wie sie ihrer gestaltenden Instinkte un-
sicher ist, schlechterdings nichts zu erreichen,
aber das Entscheidende liegt ganz wo anders:
wir können uns gegen das Eindringen der neuen
Baukunst in unsere Städte, auch in die alten
Teile, gar nicht wehren, einfach deshalb, weil
wir sehr bald nicht mehr anders werden bauen
können. Wir hätten also nur noch die Möglich-
keit, an gewissen Stellen, die uns in ihrer archi-
tektonischen Erscheinung besonders wertvoll zu
sein scheinen, das Bauen überhaupt zu ver-
bieten —, müßten uns aber dann darüber klar
sein, daß wir die betreffenden Stadtteile damit
in Museen verwandeln, wogegen sich wahrschein-
lich auch die konservativsten Bewohner dieser
Viertel sehr energisch zur Wehr setzen würden.

Frühere Zeiten haben sich niemals durch die
Rücksicht auf Bestehendes, und war es auch noch
so schön und ehrwürdig, abhalten lassen, genau
so zu bauen, wie ihnen zumute war: man denke
nur daran, wie unerhört neu den Augsburgern
um 1600 das Rathaus erschienen sein muß, das
Elias Holl in die damals noch fast rein mittel-
alterliche Stadt hineinstellte. Sicherlich haben
sie das Neue zuerst als Dissonanz empfunden,
diese Dissonanz aber hingenommen als Symptom
des neuen Geistes, der damals durch die Welt
ging. Und erst allmählich haben sie gemerkt,
daß sich zwischen dem Alten und dem Neuen
eine vorher unbekannte Harmonie bildete, die
immer voller klang, als schließlich eine ganze
Reihe dieser neuen Bauten emporwuchs. Seit
dieser Zeit hat es keine Kluft mehr gegeben, die
ähnlich tief gewesen wäre, denn auch das
Geistesleben, überhaupt die ganze Kultur hat,
im großen gesehen, die Jahrhunderte hindurch
den Weg nicht mehr verlassen, den damals die
italienische Renaissance zuerst gewiesen hatte.
Erst in unseren Tagen öffnet sich wieder eine
Kluft, die es der Menschheit unmöglich macht,

ruhig ihre Straße weiterzugehen, und erst heute
wieder gibt es eine neue Baukunst, die auf alle
bisherigen Ausdrucksmittel verzichtet und für ihr
neues Weltgefühl eine neue Sprache sucht. Und
sicherlich ist der Bruch heute noch radikaler, denn
wenn auch damals zu Beginn der Renaissance
durch die neugefundene Beziehung auf den
schauenden Menschen alle Einzelformen eine
sehr tiefgehende Umwandlung erfuhren, so blieb
doch eine Brücke zu dem Früheren erhalten:
nach wie vor war es der Stein, aus dem die
Bauten gemauert wurden, und seine statischen
Gesetze galten für das Alte wie für das Neue.
Heute aber bedeutet der Stein nichts mehr, und
die statischen Gesetze, die Jahrtausende hin-
durch gegolten hatten, haben ihre Macht ver-
loren. So schließt sich dem Neuen gegenüber
das, was seit Jahrtausenden gebaut wurde, zu
einer Einheit zusammen, die Gegensätze der
Epochen werden unwesentlich im Vergleich zu
dem, was sich heute ankündigt und was wenig-
stens in einem Teil der Baukunst bereits Gestalt
gewonnen hat.

So hätte es nichts zu bedeuten, wenn einer
heute da, wo ein neuer Bau neben einem alten
steht, nur das Trennende, die Dissonanz emp-
fände. Im Gegenteil: niemand wird die Disso-
nanz überhören dürfen. Denn es ist nun einmal
so, daß die neue Baukunst etwas Neues be-
deutet. Die neue Statik, die Verwendung neuer
Baustoffe und das ganz neue Verhältnis den
Baustoffen gegenüber, die Auflösung des Bau-
körpers in Glasflächen und der Verzicht auf jede
Einzelform, die ihre Begründung nur in der Be-
ziehung auf den Beschauer hat, alles das ist
Ausdruck einer neuen Geistigkeit, und darüber
hinaus einer neuen Ordnung der Menschheit, die
freilich im übrigen kaum erst in Umrissen zu er-
kennen ist. Und es ist gar keine Frage, daß
dieses grundsätzlich Neue an der modernen
Baukunst gerade da besonders eindringlich in
Erscheinung tritt, wo der neue Bau in unmittel-
barer Nachbarschaft eines alten steht. Hier ge-
nügt eine Fassade von wenig Achsen, um den
ganzen Gegensatz unmittelbar deutlich zu
machen.

Es ist ein wunderliches Mißverständnis, daß
diese neuen Bauformen heute bei uns auch par-
teipolitisch beurteilt werden. Sie gelten als Aus-
druck „bolschewistischer" Gesinnung und werden
daher leidenschaftlich überall da bekämpft, wo
auch der „Marxismus" und alles, was damit zu-
sammenhängt, befehdet wird. Diese Gegner-
schaft ist kaum zu verstehen, es sei denn aus
einer gewissen rückwärts gewendeten Romantik,
die zwar augenblicklich in jenen Kreisen noch

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