Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 7.1932

DOI article:
Häring, Hugo: Versuch einer Orientierung: Vortrag des Architekten Hugo Häring, Berlin, auf der 20. Jahresversammlung des Österreichischen Werkbundes
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.13707#0262

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Persönlichkeiten. Dieselben Einzelnen sind nicht nur schaf-
fende Künstler, sondern auch für alle kulturellen und ge-
stalterischen Probleme sehr empfindliche Menschen, die
zuerst die Unnatürlichkeit des Zustandes erkannten und
nicht nur anfingen, auch andere auf diese Unnatürlichkeit
aufmerksam zu machen, sondern selbst den Versuch unter-
nahmen, die Idee einer neuen, unserer Zeit und unserer
Kultur gemäßen Form zu verwirklichen; was sie auch heute
noch immer wieder versuchen. Die Entdeckung der Schön-
heit der Form der Leistungserfüllung, wie sie sich darbietet
in den Maschinen, den Gebrauchsgeräten, den Ingenieur-
bauten usw. ist das Verdienst einzelner, und wenn auch
z. B. van de Velde und Adolf Loos große Gegensätze
sind, so sind doch beide Entdecker und Verkünder dieser
Schönheit. Es ist nicht auszudenken, wo wir hingeraten
wären, wenn diese Schönheit nicht endlich entdeckt und
anerkannt worden wäre, bei welch letzterer Aufklärungs-
arbeit sich auch der Werkbund Verdienst und Ruhm er-
warb. Man braucht nur zurückzudenken und sich zu er-
innern, wie unsere Möbel, unsere Hausgeräte, unsere
Telefone, Drucksachen usw. vor 30 Jahren aussahen, um
zu begreifen, was diese Entwicklung kulturell bedeutet.

In den letzten drei Jahrzehnten ist unzweifelhaft eine
starke Entwicklung des Ansehens der Form der Leistungs-
erfüllung festzustellen, noch leistet ihr aber das größte
und bedeutungsvollste Gebiet der Gestaltung, das Haus,
ernsthaften Widerstand. Und selbst diejenigen, die ohne
Vorbehalt die Entwicklung der Form der Leistungserfüllung
anerkennen und begrüßen, zögern, ihr auch das Haus aus-
zuliefern. Es erscheint selbst diesen unvorstellbar, auch ein
Haus ganz als ein organhaftes Gebilde zu entwickeln, es
aus der Form der Leistungserfüllung heraus zu züchten, das
Haus als die weitere Haut des Menschen und also als
Organ zu sehen. Und doch scheint mir diese Entwicklung
unabwendbar zu sein und tausend Anzeichen weisen auf
sie hin. Ich glaube sogar, daß gerade in den letzten
Jahren und als eine Folge der wirtschaftlichen Not, die Be-
dingungen für die Eroberung des Wohnhauses günstiger
geworden sind, als sie je waren. Diese Verhältnisse haben
die Lust, Paläste, Schlösser und Villen, die großen und un-
besiegten Bollwerke der Architektur, zu bauen, unter-
graben und das Wohnhaus des kleinen Mannes den heuti-
gen Architekten als die einzige Aufgabe vorgesetzt. Wir
wollen uns daran erinnern, daß zwischen der Form der
Leistungserfüllung und den armen Schichten der Bevölke-
rung, und wer gehört heute nicht dazu, immer eine Schick-
salsverbundenheif bestanden hat, die sich auch in diesem
Falle wieder bestätigt. Wir sind zu dem Kulturboden der
Form der Leistungserfüllung zurückgekehrt und sind Zeuge,
wie die Mäzene der Architektur, die großen Bauherren, im
Nebel der Zeit verschwinden. Nutzen wir diese Situation.
Begnügen wir uns nicht mit einer gefälligen Lösung des
Wohnhauses, mit einer verkleinerten Villa, sondern
machen wir den Versuch, die Grundlage für eine neue Ge-
stalt des Hauses zu legen. Inzwischen werden wir eine
Zeitlang auch ohne Paläste auskommen, was scheinbar nur
in Moskau unangenehm empfunden wird, da dort das Aus-
sterben dieser Sorte Bauwerk einige Verlegenheiten be-
reitet. Es hat den Anschein, als ob man deshalb, trotz
allem, diese Gattung Haus noch einmal von dort her be-
ziehen wolle, woher man sie seit Jahrhunderten bezog,
nämlich aus Rom oder Paris.

Ich fürchte nun, Sie möchten bestreiten, daß die Aufgabe
überhaupt richtig gestellt ist, selbst wenn Sie die neue
kulturgestaltende Macht, die mit der Form der Leistungs-
erfüllung so sichtbar und deutlich zur Entfaltung drängt, in
ihrer ganzen Bedeutung zu würdigen geneigt sind. Viel-

leicht wenden Sie ein, daß zwar bei einem Flugzeug der
vollkommen eindeutige Leistungsanspruch eine eindeutige
und überzeugende Gestalt hervorbringen muß, daß hin-
gegen ein Haus einer überaus vielfältigen Inanspruch-
nahme zu genügen hat und daß es außerdem als ein
dauernd anwesender Zeuge unseres Lebens den verschie-
densten Stimmungen gerecht zu werden hat. Auch werden
Sie einwenden, daß die sozusagen natürliche Form des
Hauses eben eine rechteckige oder sonstwie geometrische
sei und daß nicht nur geistige Gründe, sondern auch tech-
nische diese Form bedingten. Das letztere ist durchaus
richtig, aber eben nur für das Haus, das der Architektur zu-
gehört, gültig, zu dem eben auch jene Technik gehört, die
in der geometrischen Form eine Eigenschaft der Materie
sieht, die anders als sachlich zu sehen sie ablehnt.

Sehen wir die Materie aber anders, sehen wir in ihr
Leben und Lebensverbundenheit, so wird auch die Technik
eine andere. Eine neue Technik, die mit leichten Konstruk-
tionen, elastischen und schmiegsamen Baustoffen arbei-
tet, die das Haus nicht mehr rechteckig und kubisch for-
dern, sondern alle Gestaltungen zulassen oder vielmehr
verwirklichen, die das Haus als Organ des Hausens aus-
bildet. Das soll nicht heißen, daß es nun keine rechtecki-
gen Räume mehr in einem Hause geben werde, beileibe
nicht, das heißt nur, daß das Rechteck nicht mehr die Gestalt
bestimmt, sondern auch nur als eineForm derLeistungserfül-
lung erscheint, was etwas ganz anderes ist. Der Kampf der
Form der Leistungserfüliung gilt durchaus nicht dem Recht-
eck oder der Geometrie überhaupt, er gilt lediglich der
aus geistigen Gründen stammenden Vorherrschaft derGeo-
metrie in der Gestaltbestimmung. Das Rechteck ist in der
organhaften Gestaltbildung eine technische Figur, und die
Geometrie hat nur noch eine Bedeutung als technisches
Werkzeug. Das Rechteck, der Quader, ist die wichtigste
Ordnungsfigur in der technischen Welt, aber für uns Heu-
tige verbinden sich keine ideologischen Konstruktionen
mehr mit ihm, wie bei den Griechen, und soweit eben ver-
sucht wird, solche wiederherzustellen, kommen diese in
Konflikt mit unserem Kulturbewußtsein. Es ist wohl mög-
lich, in eine organhafte Gestaltungsforderung ein Recht-
eck einzubauen, aber es ist nicht möglich, einer Gestalt-
forderung nach geometrischen Prinzipien eine organhafte
Gestaltbildung unterzuordnen, ohne zugleich diese Ge-
stalt zu zerstören. Es ist die Strukturverschiebung vom
Geometrischen zum Organhaften, die sich in unserem
ganzen Geistesleben vollzogen hat, die die Form der Lei-
stungserfüllung mobil gemacht hat gegen die Geometrie.
Die Stellung der Geometrie, ihre Bedeutung innerhalb der
ganzen Kultur ist das Entscheidende. Aus der Verände-
rung, die sich in dieser Stellung vollzogen hat, sind die
Folgen zu ziehen. Eine dieser Folgen ist die Abdankung
der Geometrie als kulturgestaitende Macht und der Auf-
stieg organhafter Gestaltschaffung.

Das Wohnhaus der unteren Schichten der Bevölkerung
hat sich zu allen Zeiten und überall dem Einfluß der
Geometrie fast ganz entzogen. Es verhielt sich ablehnend
wie Geräte und Werkzeug. Ebenso kommt die Gotik
ohne Geometrie aus. In der Gotik ist die Geometrie nur
für das Technische da, für die Gestalt des Baues bedeutet
sie gar nichts. Der Profanbau und besonders auch der
Städtebau der Gotik gestalten fast ungehemmt in der Idee
der Leistungserfüllung. Dabei wollen wir nicht übersehen,
daß das Gebiet, in dem die Gotik sich entwickelte, das-
selbe ist, in dem heute die Idee der Form der Leistungs-
erfüllung lebendig ist. Ein heutiges Wohnhaus organhaf-
ter Gestaltung, wenn wir uns von ihm ein Bild zu machen
wagen dürfen (ich glaube nicht, daß es so bald gebaut

222
 
Annotationen