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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 27.1929

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Heft 5
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Utitz, Emil: Generationsprobleme
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https://doi.org/10.11588/diglit.7608#0230

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eher gestalten, denn — darin stimmen wir Pinder völlig
bei — eine „Ordnung, die in aller Einfachheit die Dinge
totdrückt", kann nicht das Ziel sein.

Brinckmann glaubt nach einer Phase des Sturmes und
Dranges eine zweite der klaren Verfestigung der Urteile
feststellen zu müssen. Statt des Schwankens und der Fülle
der Gesichte herrscht dann geistige Stetigkeit, Einsicht und
Erkenntnis der Beziehungen, das Bewußtsein bestimmter
und bestimmender Relationen. Im Alter erfolgt hierauf ein
Zurückbiegen in sich selbst, eine Verschmolzenheit. Die
Gegensätzlichkeit dieses Begriffspaares — Relation und Ver-
schmolzenheit — soll an die individuelle Erscheinung ge-
bunden sein und daher in allen Epochen sich finden; han-
delt es sich doch um personale Wandlungen physio-psycho-
logischer Art innerhalb der Lebensform des ästhetischen
Menschen. Daß unbeschadet aller durchgehenden Wesens-
züge Jugend, Reife und Greisentum durch charakterologische
Besonderheiten ausgezeichnet sind, erscheint mir fraglos;
Brinckmann hat ohne Zweifel ein echtes und wichtiges, ge-
meinhin wenig beachtetes Problem erfaßt. Und auch in
der speziellen Durchführung trifft er vielfach Richtiges, ob-
gleich ich in manchen Punkten — wie zum Beispiel in der
Ausdeutung der Rolle des Sexuellen — anderer Ansicht bin.
Es wäre nun meines Erachtens weiterhin die Wertigkeit jener
personalen Wandlungen zu untersuchen im Rahmen bestimm-
ter Künstlerindividualitäten. Hier spalten sich sehr wichtige
Typen auf, die neue Fragestellungen eröffnen. Sodann müßte
schärfer und eingehend geprüft werden, wie sich jene Phasen-
folge zu den „Stilen" verhält. Ich bin ganz einig mit Brinck-
mann darin, daß verschiedene Zeiten „die Aussprache ver-
schiedener Lebensalter begünstigen" und zugleich die anderer
hemmen. Hier ergeben sich aber nun — diese Vermutung
darf man gewiß äußern — mannigfachste Möglichkeiten:
der Verstärkung und Schwächung, des übersteigernden Aus-
gleiches, der sich versteifenden Opposition usw.

Dienen bereits diese Forschungen — die nachdrücklich
gefördert und gefordert zu haben ein unbestreitbares Ver-
dienst Brinckmanns ist — einer Bereicherung des historischen
Zeitbildes, so geht W. Pinder in dieser Richtung noch viel
weiter. An die Spitze seiner Betrachtungen stellt er den
allem Zweifel entzogenen Satz von der Gleichzeitigkeit
der verschieden Altrigen. Es ist durchaus gestaltet in diesem
Leitmotiv, genau so wie in den Grundlehren Brinckmanns
eine schlichte Selbstverständlichkeit zu erblicken. Ich sehe
gerade darin einen erheblichen Vorteil. Und die gesamten
Folgerungen — die sich aus so einfachen, aschenbrödelhaften
Wahrheiten herleiten, die gar zu leicht vergessen werden
— sind gewiß nicht belanglos. Man muß nur wirklich Ernst
tnachen. Und das macht Pinder.

Der „Gänsemarsch der Stile" — den Pinder mit Recht
auf die unterste Stufe des Dilettantismus abschiebt — wird
auf diesem Boden völlig unmöglich, denn „für jeden ist die
gleiche Zeit eine andere Zeit, nämlich ein anderes Zeitalter
seiner selbst, das er nur mit Gleichaltrigen teilt". Die Ge-
neration wird für Pinder zu einem Stilwert; die geschicht-
liche Zeit wird mehrschichtig, ihre Struktur knüpft sich aus
Generationen und Geburtsintervallen. „Während wir doch
wissen, daß es gute impressionistische Bilder gibt, die später
sind als gute modernste, nehmen wir uns im Mittelalter die

Freiheit zu einer völlig einschichtigen Reihenfolge: 1350,
1360, 1370 bedeuten eine einschichtige Folge von formge-
schichtlichen Zuständen, von denen jeder einzelne als tiefen-
los, wenn auch noch so schnell vergehend, aufgefaßt wird.
Als ob nicht Menschen hinter diesen Werken stünden, son-
dern irgendwelche alterslose Normalwesen, die sich von den
»Zeiten« gleichsam zureiten ließen." Bis hierher wird jeder
mit Pinder zusammengehen können und mit ihm verlangen,
daß diese Generationsforschung praktisch ausgebaut wird.
Pinder selbst gibt einen großzügigen und heuristisch unge-
mein anregenden Versuch.

Fraglicher wird nun aber der Überbau, zu dem Pinder
weiterhin sich veranlaßt sieht, bisweilen allzu hart das
Mystische streifend. Doch hiervon sei ebensowenig die
Rede, wie von manchem trefflichen, überraschenden Detail.
Greifen wir den Hauptgedanken heraus, so wurzelt er in
der Überzeugung Pinders, daß das Gesetz der Generation
ein spezifisch-europäisches sei, weil es ein Gesetz der Wand-
lung darstellt, des aktiven Veränderungstriebes, und der Faktor
der Wandlung zu den stetig-europäischen gehöre. Ich bin
in außereuropäischer Kunst viel zu wenig beschlagen, um
diese Behauptung nachprüfen zu können. Doch keinesfalls
darf dieses Gesetz besagen, daß auch die einzelne Genera-
tion auf Wandlung in ihrem Kunstwollen eingestellt sein
muß; sie kann durchaus harmonische Ruhe anstreben. Hier
täte eine nähere Analyse not, um den Geltungsumfang und
Geltungssinn dieses Gesetzes zu begrenzen, vor mißver-
ständlicher Verallgemeinerung und falscher Anwendung zu
schützen.

Nun soll ferner das Generationsproblem sich nicht nur
auf die Künstler, sondern auch auf die Künste erstrecken.
„Nur wer nicht begreift, was eine Kathedrale war, kann
glauben, daß heute überhaupt etwas Derartiges, Architektur
nämlich als natürliche und heilige Sprache, wieder möglich
ist." Es wird zwar heute noch gebaut; und im frühen Mittel-
alter wurde musiziert. Aber die Architektur hat an Sprachwert
und Sprachgewalt verloren, „die Musik von damals war nur erst
angewandte Kunst, hörbares Ornament im Dienste der Kathe-
drale". Die alte Architektur war ein Werk der Gemein-
schaft. „Das gehört zu einer früheren Menschheit. Die
Symphonie kann nur das Werk eines Einzelnen sein, der
für alle spricht, indem er alle in sich selbst hineinnimmt.
Das gehört zu einer späteren Menschheit." So ergibt sich
eine Abfolge von Architektur, Plastik, Malerei und Musik
als nacheinander führender — nicht nacheinander, sondern
gleichzeitig existierender — Künste; ein Weg vom Anorga-
nischen zum Organischen, vom Räumlichen zum Zeitlichen.
„Zwischen noch reiner Architektur und schon reiner Musik
liegen alle Möglichkeiten gemeisterter Erscheinungswelt."

Es ist nicht zu leugnen, daß in bestimmten Zeitepochen
bestimmte Künste führen; und auch der von Pinder gewie-
sene Rhythmus hat für den neueren, abendländischen Kunst-
verlauf etwas einigermaßen Einleuchtendes. Aber wir müssen
doch fragen: soll dies etwa schlechthin gelten? oder sind
wir jetzt am Ende, wo wir bei der Musik angelangt sind?
oder beginnt der periodische Verlauf von neuem? Da fehlt
es an Antworten. So bleibt gar manches noch ungesichert.
Blicken wir aber von diesen schwankenden letzten Mög-
lichkeiten zurück auf die festeren, beglaubigten Ausgangs-

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