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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 27.1929

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Heft 7
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Gasquet, Paul: Aus dem Leben Cézannes
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https://doi.org/10.11588/diglit.7608#0306

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Er überschätzte beständig seine Kraft, nervös, mit
tiefen Schattenrändern um die Augen, das Hirn zer-
quält, das Fieber im Herzen, so bedrückten ihn seine
Zweifel. Hätte er frohen Mutes arbeiten können,
er hätte wie Tizian bis zu seinem hundertsten
Jahre gemalt. Er überanstrengte seinen Körper, er
machte noch immer lange Spaziergänge, wie er es
seit seiner Jugend so gerne tat, er bestieg ganz allein,
den Rucksack auf dem Rücken, den Berg Victoire,
bei Sonne und bei Regen. Enthaltsam, wie er war,
begnügte er sich oft, um sein Atelier nicht zu
verlassen, zum Frühstück mit einem Stück Käse, Brot
und ein paar Nüssen. Darauf ein Glas guten Weines,
eine Tasse Kaffee, und diese asketische Mahlzeit hielt
ihn aufrecht bis zum Abend. Er verabscheute den
Alkohol, aber er liebte die alten Landweine sehr,
mit denen er von Zeit zu Zeit eine üppige Schmauserei
in Gesellschaft von Solari oder Paul Alexis begoß.
Nach den ersten starken Gläsern richtete ihn ein
gleichsam übernatürliches Feuer empor, streckte
seinen etwas gebeugten Rücken, ließ ihm die Röte
ins Gesicht steigen. Eine eigentümliche Klarheit
belebte ihn. Eine natürliche Logik, eine tiefe Be-

geisterung verlieh seiner Erregung den stärksten
Ausdruck. Seine Ergriffenheit strömte über. Eine
unwiderstehliche Beredsamkeit gab ihr Ausdruck,
mit den letzten Mitteln der Sprache und des Ge-
dankens. Wer ihm nicht in einer dieser Stunden
gelauscht hat, wo er sich in seiner ganzen Erhabenheit
offenbarte, weiß nichts von ihm. Seine Menschen-
feindlichkeit, sein scheues Wesen fielen von ihm
ab. Er vergeudete seine Gelehrsamkeit, seine Zärt-
lichkeit, seine Erinnerungen. Er reihte Theorien
aneinander, er schuf die Welt von neuem, liebte,
verstand alles. So sehr man ihn verfolgte, immer
strahlte siegreich sein Genie. Mit Ironie, Heftig-
keit, Freude umfaßte die baumeisterliche Kraft
seiner Güte alle Dinge der Welt. Ohne Zweifel
hätte er immer so gelebt, wenn der Ruhm sich
zu ihm gesellt hätte.

Das erste Mal sah ich ihn im Cafe. Solari, Numa
Coste und mein Vater plauderten mit ihm. Es
war an einem Sonntag, zur Zeit des Aperitif. Sie
saßen am Corso Mirabeau auf der Terrasse des
Cafe Oriental. Alexis und Coste waren Stamm-
gäste. Die Nacht senkte sich auf die großen

PAUL CEZANNE, STILLEBEN MIT FLASCHEN

MIT ERLAUBNIS DER D. D. A. (GALERIE FLECHTHEIM)

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