Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 6.1926

DOI Heft:
Heft 4 (April 1926)
DOI Artikel:
Nicklass, Elsa: Kunst und Religion
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.23685#0085

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
76

Bild sehe ich noch jeht klar vor mir, und die anderen
Gestalten sind davor etwas verblatzk. So viel auf
einmal kann ich nie ganz aufnehmen, aber in eins
oder zwet dann ganz hineindenken und es mitemp-
finden..." —

„So etwas hatte ich bisher nur immer gesucht und
nie finden können" — wie schön ist das gesagt!

Dasselbe Mädchen, bei dem hier bildende Kunst
so starke religiöse Gefühle löst, schreibt mir — nun
sie zwanzigjährig ist und die Schule ein paar Iahre
hinter sich hat — in einem Brief über Mustk:

„Bon einem Erlebnis muß ich sthnen noch bertch-
ken, es war so sehr schön. 2ch bin am Karfreitag in
dem Don-Kosakenchor gewesen. Sie sangen so wun-
dervoll, wie ich es noch nie gehört habe. Jch ging
mit sehr hochgespannker Errvartung hin, meine
Mutter hatte mir schon ofk von dem russischen Gesang
erzählt; besonders von den Kirchenchören in den
russischen Kirchen an den Festkagen. Sie hat es ja
oft gehört, denn sie hat einen grotzen Teil ihrer
Zugend in der Nähe von Warschau verlebt. Da traf
es sich nun schön, dah das Programm dem Tage ent-
sprechend ausschließlich aus Kirchengesängen, Trauer-
mesten bestand) vor jedem Lied ging in dem grotzen
Saal das Licht aus und die Bühne war erhellt, datz
ein felerliches, tiefes Halbdunkel herrschke. Dann
begann der Gesang: für mein Ohr wohl mit die
schönste Musik, die ich mir nur denken kann: schwer-
mütig und sütz, ohne Senttmentalität an- und ab-
schwellend und mikunter den ganzen Saal durch-
brausend wie etne Orael. Die tiefe Bedeutung des
Tages kam einem daoei wirklich zum Bewuhksein.
stch bin am selben Morgen auch in der Kirche ge-
wesen und habe da gar keinen Eindruck gehabt. Be-
sonders war der langweilige Gesang — es waren
zehn Skrophen von ein und demselben Lied — so
niederdrückend und schläfrig machend, daß die An-
dachk dabei richtig erstickt wurde; jedenfalls hatte ich
so dieses Gefühl. Die Orgel versuchte immer vergeb-
lich, ein schnelleres Tempo durchzusetzen, doch war
es nichk möglich, der ganze Gemeindegesang glich
einem trägen Klotz, der sich absolut nicht mitziehen
lieh. Wie wundervoll klang dagegen jener Chor. Wie-
viel grötzer mutz nun noch der Eindruck sein, wenn
man diesen Tönen in einer grotzen Kirche lauschen
kann, wenn man da irgend wo verborgen sitzk und
lieberirdische zu hören glaubt ..."

Dieses so tief religiös empfindende Mädchen blieb
im Karfreikagsgottesdienst in der Kirche ohne alle
Andachtsgefühle und wurde in einem profanen Kon-
zertsaal von ausländischer Muflk in tiesster Seele
ergriffen und von heiligen Gefühlen durchströmt! lind
was die Seele tn diese besonderen Schwingnngen
versetzte, war die hochkünstlerische Darbiekung von
kirchlichen Gesängen, das „feierliche Halbdunkel" des
Raumes und vermutlich auch, chr unbewutzt, das tiefe
Mitgehen der Kunstgemeinde, die sich hier zu gemein-
samem Erleben zusammengefunden hatte. Datz aber
am Morgen deSselben Tages chre aufncchmefähige
Seele ohne alle Ernte blieb, daß alle Andacht in
ihr „erstickt" wurde — daran war das den Fein-
empsindenden nicht nur als „Kunstloses", sonüern als
„Hätzliches" und „Abstoßendes" berührende des
schleppenden, krübseligen Gesanges schuld die
Monokonie des endlosen Strophensingens — die Lieb-
lostgkeit und Stillostgkeit, mit der solch' eine Er-

bauungsstunde der Herzen behandelt wurde — das
grotesk Unfeierliche!

Zu wahrer Feierlichkeit gehört auch Schönheit.
Wenn die Menschen des deutlchen Mtttelalters chre
Altäre mit prächtigen Flügelbildern der ersten Maler
schmückken, — wenn sie durch köstliche vielfarbene
Glasfenster das rauhe, allzu irdische Tagesltchk in
gebrochener Weichheit dem Raum sich mitteilen
ließen — wenn sie an Pfeiler und in tlefverschwie-
gene, dämmernde Nischen Plastiken von milder,
sanftstrahlender Schönheit stellten, von dem Meißel
berühmter Meister herrührend — Sarkophage an
auserlesener Stelle des Gokkeshauses sich erheben
liehen, die durch ihren Ernst und ihre Monumentali-
kät von nicht geringer Mirkung auf das menschliche
Gemüt blieben — wenn sie die Ktrchenstühle mit
edelstem Schnitzwerk verzierten und von meisterlichen
Händen unirdische Gebilde von gegossenen und zise-
lierten Kronleuchtern für die Decken der geweihten
Stäkken geliefert wurden, — und nicht zuletzk, wenn
ste von feierlicher, erhabenster und alleredelster Musik
den Raum und die Herzen der Andächtigen durch-
fluten und durchgeisten liehen — da wuhten sie schon
was sie taten!

Und nun erst das heiltge Haus an sich! Wir
„bauen" jetzt Kirchen die sich von anderen Häu-
sern wohl durch die Höhe und Grötze und auck durch
das Ueberragen des Turmes auszetchnen. Damals
„wuchsen" aus dem irdischen Boden Gebilde von
mystischer Echönheit empor, wie seltene Blumen
zwischen den Gewächsen ihrer Umgebung leuchkend,
ganz rein in ihrem Klang, himmelstrebig hoch und
wirklich Lberragend allen Allkag rinas-umher —
aber von innen her, — von ihrer Seele aus. Denn
diese Kirchen hakten ihre eigene Seele. Sie waren
nicht wie von Menschen geschaffen — es war, als
hälte flch der Erdboden geöffnet und hätte ste heraus-
geschleudert wie ein Naturgebilde — ein unmikkel-
bares Erstehen von Gottes Hand.

Wir brauchen Schönheit und Kunst als Begleiter
der religiösen Handlung und als Erzeuger von reli-
iösen Gefühlen. Eine Andacht, die ich im vorigen
ahre in der Schule hielt und dle in Gedanken auf
Reltgion — in der Form aber ganz auf Kunst ge-
stellk war, hak meinem Gefühl nach den Hörern ekwas
mikgegeben. Sie gründeke sich aus den Gedanken der
Menschen- und Rächstenliebe. Als Eingangslied soll-
ken die Kinder Beethovens: „So stemand sprichk: Ich
liebe Gotk! und hatzt doch selne Brüder" stngen, (leider
wurde es aus kechnischer Schwierigkeik, stnfkrumen-
kenmangel, durch: „Gokt Deine Güte reichk so weik"
ersetzk). Dann sprach ich die Eingangsworke von
Christian Morgenstern:

„Ich habe den Menschen gesehn in selner kiefsten

Gestalt

Ich kenne die Melt bis auf den Grundgehalt.
llch weitz, dah Liebe, Liebe ihr kiefster Sinn,

Und däß ich da, um immer mehr zü lieben bin.

3ch breike die Arme aus, wie Er gekan
3ch möchte die ganze Welt, wie Er umfahn.

Darauf setzte feierlich und ernst antworkend im
Chor die erste Klafle ein mit dem ersten Vers aus
dem Gedichk „Brüder" von Morgenstern:

„Brüder!" — hört das Wort!

Soll's ein Wort nur bleiben?

Soll'S nichk Früchte treiben? fork und fort?
 
Annotationen