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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 6.1926

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Heft 10 (Okotber 1926)
DOI Artikel:
Behm, Walther: Rhythmus und Naturform: ein Weg im Zeichnenunterricht
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https://doi.org/10.11588/diglit.23685#0224

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199

Rhythmus und Naturform

Ein Weg lm Zeichennnkerricht
Von Waltber Bebm. Berlin-Friedenan
Siehe Beilage.

Der Zeichenunterricht an den höheren Schulen hat
sich seit den Zeiken des „peinlich genau abgezeichneten
Gipskopfes" gewaltig erweitert, er umfatzt doch in
heutiger Zeit schon in der Schule künstlerische Äus-
drucksmöglichkeiten, die noch vor 10 bis 15 Iahren
als verrückt und hirnverbrannt gegolten haben. Ilnd
es ist gut, datz man den Vertrekern des „Akademis-
mus" gegenüberhalken kann, daß es schon in öen
Reihen der Schulpädagogen von gestern Männer
gibt, die weiter fühlen, als man zu sehen und an-
zufassen vermag. Eine Auffassung über Kunstpäda-
gogik wie die des Ministerialrates Richert im Kul-
tusminifkerium bedeutet ein schweres Gewicht zu
Gunsten derer, die die Stoßkrupps auf dem Neuland
führen.

Man muß sich über manche Dinge klar sein, wenn
man sich auf ein Versuchsfeld begibt. Das bedeutet
immer, daß man einen Boden betritt, auf dem man
Fehler machen kann, auf dem man sich gelegentlich
Dinge erlaubt oder durchgehen läßt, die auf dem an-
gestammten Boden der geheiligten Tradition einen
Verstoß darstellen würden. Man weiß, daß ein
Schüler nach den zwei Wochenzeichenstunden ein
ordentlich gezeichnetes Blatt abgeben müßte, d. h„
es muß so viel — qualitativer und quantitativer —
Arbeit darauf sein, als man bequem in zwei Stun-
den bewältigen kann. Sehr gut kann man sich nach
der Eigenart der Schüler, die man ja im Laufe der
Zeit kennen gelernt hat, den Gesamtleistungsdurch-
schnitt für die zwei Wochenstunden errechnen. So-
bald man sich nun mit der Schülerschiqft auf ein Ver-
suchsfeld begibt, muß man wissen^daß man ihr den
bisher benuhten Boden auf eMmal entziehk. Die
Folge davon ist verringertes^ptier völlig ausfallendes
Gesamt leistungsergebnis»^ denn Einzelleistungen
wird es immer, auch bei schwierigen Aufgaben,
geben. Diese zunächst nicht ergebnisreiche ueber-
gangszeit ist der Prüfstein, und es bedarf des ganzen
Glaubens an die eigene Kraft, um sich nicht von der
„Verstandes"kritik, die nach der Arbeit immer gleich
das Ergebnis sehen will, aus der Bahn werfen zu
lassen.

So ging es mir, als ich eines schönen Tages im
Zeichenunlerricht sämtliche Tuschkästen auf den Tisch
komniandierte und vor der ganzen Gesellschafk zuerst
das L-Dur-Präludium von Bach, alsdann das An-
danke grazioso aus der 12. Sonake von Mozart und
zum Schluß den Trauermarsch von Chopin spielen
ließ, darauf die Schüler mit der Weisung, das Ge-
hörte gegenstandslos in Farben oder Linien umzu-
sehen, ihrem Schicksal überließ. Alle Götter des
Himmels und der Hölle standen bei diesen Farben-
orgien Pake. Eine Reihe unterfing sich, den Znhalt
ihrer auf den ersten Blick als verpflichtungslose
Schmierereien zu erkennenden „Malereien^ als
innere Wahrhaftigkeit hinzustellen. Es ist natürlich
selbstverständlich, daß diese Ausbrecher nicht durch-

kommen konnten, da man für jedes Blatt nachweisen
konnte, ob ein Gefühl für Rhythmus, Linie oder
Ktangfarbe vorhanden und erkennbar war. Sehr
bald gaben natürlich die, welche glaubten, daß der
Grad der kaum vorhandenen, andererseits aber noch
nicht geweckten Gestaltungskraft in der gegenstands-
losen Darstellung unkontrollierbar sei, die Versuche
einer Ilebertölpelung auf. Ein Berg negakiver Er-
gebnisse türmte sich auf, die Kritik schwoll an. Zch
zog die Farbenlehre Kandinskys heran und andere
Werke. Ilnd siehe da: im Laufe der Zeit erwachte
das Gefühl für Leichtigkeit, Anmuk, Grazie, für^
Schwere, Düsterkeit und Härte in Farbe und Linie.
Gar bald trennten sich dis Geister in das Lager der
Farben- und das der Formen- und Linienschöpfer.
Bei zweiken und dritken Versuchen wurde „gearoei-
tet". 2ch kann nach meinen Erfahrungen nur sagen:
Ein erstaunlich reiches, phantasievolles Znnenleben
offenbarte sich. Blätker von höchster innerer Span-
nung entstanden, die unangekränkelt von jeder Gei-
stigkeit und jeglicher Problematik etwas Ürzellen-
haftes atmeten. Ich perfönlich habe mehr davon
gelernt als von den Arbeiten Erwachsener, die diese
Dinge auch malen. ^

Ein zweites Thema lauteke: Mcnschen, Tiere und
Landschaften, organisch richtig, aber phankasiemäßig
völlig frei verarbeikek, neu zu schaffen.

Ein drittes Thema behändelke die freie, spielende
Ausfüllung einer Fläche, gleichsam in der Bewußt-
losigkeit hingekritzelt, so wie wir Erwachsenen das
gelegenklich tun bei einer Ilnterhaltung, die zu wich-
tigem Nachdenken zwingk. Stern an Stern reihte
sich da zusammen zu einem buntschillernden Phan-
tasieteppich. „Seelentapete" wird das bei uns ge-
nannt. Nätürlich kann man fragen: ,Wozu das Ge-
schmierch der Zufall bringk doch nur das zusammen,
was wir da als „eiaenartig" bezeichnen?" Dem-
gegenüber behaupte ich: „Es gibt keinen „Zufall"!"
Es kann zwar ekwas unter den Flngern entskchen,
wofür man mit dem Verstand oder dem Bewußksein
nicht Rede und Ankwort stehen kann. Aber ich habe
gefunden, daß bei den Schülern unter allen UmstSn-
den immer wieder die gleiche Formgebung her-
vorbricht. Auch solche Seelentapete ist durchaus ein
Dokument der Schöpfung, welches zu den tnter-
eflantesten Studien Stoff gibt, so z. B. können -ie
meisten meiner „Seelenkapezierer" keine besonders
guten Aufsähe schreiben, die Schüler mit der stärk-
sten Ausdruckskrafk stnd alte mustkalisch. Anderer-
seiks will ich auch gestehen, daß eine ganZe Reihe
von der eigenen Begabung überhaupt nicht überzeügt
war, auch keinen Ehrgeiz auf diesem Gebiet besaß.
Diese machten nur widerwillig ihre Arbeik und konn-
ken über irgendwelche mit iyrer Arbeit zusammen-
hängenden Fragen nicht die geringste Auskunft
geben. Es gab Beispiele, wo die Gestalkungskraft
periodenweise oder sogar ganz erlosch, wo kein Zu-
 
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