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Bund Deutscher Kunsterzieher [Editor]
Kunst und Jugend — N.F. 6.1926

DOI issue:
Heft 10 (Okotber 1926)
DOI article:
Behm, Walther: Rhythmus und Naturform: ein Weg im Zeichnenunterricht
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.23685#0225

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200

reden half: Das Bämonische hatte den Iungen ver-
lassen. Die damit sich aufroerfende Frage, ob der
Träger einer Kunstbegabung überhaupt feelisch an
ein zwangsläufiges Abhängigkeitsverhältnis zu seiner
Kunst gebunden ist oder sein muh, ist vielleicht von
berufener Seite jchon behandelt ivorden.

Aus den Arbeiten ist zu erkennen, ob die Schüler
mehr linienhafte oder mehr malerische Gestaltung
vorziehen und innerhalb diejer Gebiete die Neigun-
gen, jchrankenlos mit der ganzen zur Berfügung
jtehenöen Fläche zu wirtschaften oder bestimmte Ab-
grenzungsmatze vorzuziehen. 2ch habe gefunden, datz
öie Gröjze der Handfläche bei der Füllung selten
gern überschritten wird. Ob das mit dem Bestreben
zusammenhängt, innerhalb der zwei Stunden eine
Arbeit fertigzustellen, oder mit der schöpserischen
Spannkraft, öie bei dieser hohen Leistung an Forin-
erfindungen über eine Zeitspanne von zwei Stunden
selten hinausgeht, vermag ich nicht zu entscheiden.
Selten wurden angefangene Arbeiten später fort-
gesetzt. Der Schüler empfindet selbst die Gefahr und
öen Zwiespalt, der gleichsam durch Wechsel der Ton-
art die Bariation überzieht zu einem Charakter-
wechsel. Der Gefahr, daß der Schüler in eine Ge-
staliungssucht verfäüt, begegnet man am besten durch
jtrenge Durchführung der Abwechslung, also Natur-
studium, Linearzeichnen usw.

Aus dieser zweidimensionalen Gestallung ergab
sich im Laufe der Zeit die Forderung der dritten
Dimension, die sich in dieser freien Schöpfungsmög-
lichkeit verhältnismätzig langjamer einstellt als für
die „reproduktive" dritte Dimension. Fast alien
Schülerarbeiten der Perspektive bzw. der dritten
Dimension hängt, noch bis in die obersten Klassen,
eine Flächenhaftigkeit an. Unerhörte, phantasiereiche
Körper von Kristall, Wachstumsformen und Traum-
gebilde entstanöen, doch wahrheitsgemätz gesagt, nicht
in der gleichen Menge wie die erstgenannten Ar-
beiten. Als Anregung dienten Häckels Kunstformen
der Natur sAibliographisches Znstitut, Leipzig, Aus-
gabe aber leider lange vergriffen).

Die Forderung nach der höchstmöglichsten, der
ersten Dimension, der abstrakten Linie schlechthin,
kamen nur die wenigsten nach, liegt doch hier die
Grenze des Möglichen, was man von einem Schüler
verlangen kann. Der Schritt von der bildgewordenen
Empfindung bis zum Charakter der „graphischen
Darstellung" ist zu klein, um hier saubere, augen-
fällige Trennungen vornehmen zu können. Doch man
konnte sehen, datz schwere Kämpfe ausgefochten wur-
den, — um eine einzige Linie auf das Papier zu

bringen,-in zwei Skundenl „Die" Linie für

einen bestimmten Begrlff.

2ch mag nicht darüber rechten, ob diese Arbeit
überhaupt in die Schule gehört. Die Zeitströmung
im Kunstunterrichk fordert auf, auch in das Herz von
Dingen zu stotzen, die noch nicht pädagogisch zer-
pflückt und „ausgewertet" sind. Es lst schwer, die
Frage des verstandesmätzigen Krltikers zu beantwor-
ten, der nach dem Nutzwert schaut. Genau wie ein
Stotterer es lernt, den Rhythmus des Atems zu sei-
nem Besitzkum zu machen, um die volle Harmonie —
will sagen Kunst — der menschlichen Sprache zu be-
herrschen, genau so lernt der junge und aufnahme-

fähige Mensch die rhythmische Gestaltung der ihm
von Gott gegebenen künstlerischen Begabung. 3ch-
habe gefunöen, datz die Form einer gegenstandslosen
Schöpsung auch ein Weg zur Hebung und Lockerung
öer menschlichen Gemütskräfte bildet.

Nach diesen gegenstandslosen Arbeiten habe ich
mit Schülern der Mittelklassen 0 III und II II noch
einmal die Zeichenmodelle der unteren Klassen be-
trachtet und verarbeitet. Ietzt erst war der lebendige
Rhythmus, z. B. des Eichenblattes, zu verstehen in
seiner kristallklaren Offenbarung. Sprietzend als
Wachstum aus der kraftvollen Mittellinie baut sich
diese Blattform mit immer weiter ausladenden
Schwellungen und Einziehungen auf bis zur hoch-
liegenden breitesten Spannweite, um sich wieder zu
voller Ruhe zusammenzufassen, jede Schwellung
immer wieder ein Abbild der einen Hälfte der Ge-
samtform. Wenn auch die Mittellinie allmählich
immer schwächer wird, so kann man doch nicht sagen,
datz die breiteste Spannweite mangelnde Tragkraft^
bejitzt oder sozusagen „ausbricht" aus der strengen
Linienführung des Gesamtaufbaues. Eln Sinnbild in
sich geschlossener Harmonie, durchweht und durch-
zittert von einem für diese kleine Fläche geradezu
unerhört kraftvollen Wechsel von Spannung und
Ruhe, beinahe ein Gleichnis zum menjchlichen Leben!
Mährend öer kleine Schüler dieses Blatt sast durch-
weg auf „leicht" oder „schwer" zeichenbar betrachtet,
lernt der ältere Schüler, der bereits aus den inner-
sten Quellen des rhythmischen Gefühles selbst gestal-
ten konnte, mit innerer Bewegung diese kleinen und
doch größten Wunderwerke der Ratur auf ihre vol-
len und ganzen Werte hin zu betrachten. Nebenher
soll man auch nicht vergessen, die naturwissenschaft-
lichen Erklärungen Francä's heranzuzichen. Diesem
Beispiel des Eichenblattes ließen sich noch viele an-
reihen, Schmekterlinge, Blüten, Bäume, Landschaf-
ten. Man lasse die Farbe bzw. Linie dieser Erschei-
nung vergleichen mit Mufikstücken, Menschen, Tie-
ren ssiehe die zwei „Bergleichenden Studien von
Tier- und Menjchenphysiognomien" des italienischen
Bildhauers Della Porta) mit Dur- und Mollcharak-
ter, mit dem Borkragstempo allegro, largo usw.

Während der jüngere Schüler bei allen seinen
Zeichenmodellen naturgematz den„Gegenüberstellungs-
Skandpünkt" einnehmen muß, aus dem heraus die
künstlerische Wiedergabe — wenn das Wort „künst-
lerisch" hier so verltanden wird, datz man auch nur
„reflektiv" sagen kann — in schrittweiser Arbett
erfolgt, so erkennt unü deutet Ler ältere Schüler
diese Erscheinungsformen der Natur, sobald die
naturgesetzliche Parallelität die Gleichheit von
Schwingungen fühlbar und bewußt werden läßt. —
Zntuitives Schaffen. X

Glaube und Ileberzeugung sind die Grundbedin-
gungen für Arbeitsversuche auf dem soeben beschrie-
beneii Gebiet.

Anmerkung der Schriftleitung: Diesem Aufsah
war eine größere Anzahl von Schülerarbeiten zur
Erläuterung beigegeben, die sich aber — namentlich
die farbigen — einfarbig und in kleinem Format
nichk gut vervielfälkigen ließen. Wir zogen es vor,
e i n Blatt in richtiger Größe und möglichst genauer
Wiedergabe zu bringen.
 
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