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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 6.1926

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Heft 4 (April 1926)
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Grothmann, Heinrich: Widerlegung von Einwänden gegen den Zeichen- und Kunstunterricht am humanistischen Gymnasium
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https://doi.org/10.11588/diglit.23685#0087

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78

Zeicheminterricht will doch wahrlich nicht künskleri-
schen Diletkankismus kreiben. Auch die praktische
Verwendbarkeit des Zeichnens, obwohl fle nichk zu
unkerschähen ist. ist nicht der unmikkelbare Zweck die-
ses Ilnkerrichts. Er hak vielmehr, wie sedes andere
Mldunpsfach, den panzen Menscken im Auae, indem
er Fähiakeiten erzieht, die dem Menschen als wesenk-
liche Züge angeboren sind, auf deren Pflege er ein
natürliches Anrecht hak und die nur durch die Ilebung
im bildhasten Gestalken, zu der die Kunstbekrachkunq
in förderliche Beziehung zu bringen isk, enkwickelk
werden können. Gerade das humanistische Gymna-
sium müsste aus seinen ureigensten Abflchken heraus
ein solches Unkerrichksfach ganz besonders ins Herz
schließen. Es soll nichk verkannt werden, daß dies
stestenweise auch schon geschieht. stm allgemeinen
aber siehk das Gymnasium auf alles, was „kechnisch"
ist, mik einer gewissen Geringschähung und ofk noch
mit wenig Verständnis herab. Die ankike Gesinnung,
die zwar das Kunstwerk verehrk, den Künstler aber
verachkek, svrichk sich hier aus, jene Gesinnung, unker
der noch Geister wie Leonardo und DLrer schwer zu
leiden gebabt haben und die selbst noch in der Zeik
höchster Vollendung der kechnischen Künste ihre reak-
tionäre Wirkung auf den nichk aufzuhalkenden Gang
der Dinge gelegenklich auszuüben versuchk. Der Zei-
chenunkerrichk yflegt das Sehen. d. h. dle bewutzte
Beobachkung, und zwar nach Technik und stnhalt.
Welchen unabsehbaren Werk die Beobachtuna für
Wissenschafk. Kunst und Technik hak, braucke ich ge-
bildeken Lesern nichk erst nachzuweisen. Wer aber
noch nichk davon überzeugk ist, dem empfehle ich, in
Chamberlains „Grundkagen des 19. stahrhunderks"
die Kapitel über „die Enkstebung einer neuen Welk"
nachzulefen. Wen diese Ausführungen von dem Werk
der Beobackknng nickk überzeugen, dem ist freilick nichk
zu helfen. 3m Zeichenunkerrichk wird der Schüler zu
einer methodtschen Technik des Sehens anqeleitek.
Aber ebenso wichkig wie die Technik des Sehens ist
der geqenstänüliche stnhalk desselben: die Nakur nach
ihrer Erscheinung als solcher. Aieraus ergibk sich eine
Form des Nakurstudiums, welche dle Grundlage jeder
besonderen Nakurbeobachkung bildek, der Be-
obachkung des Forschers, des Technikers. des Künst-
lers und Handwerkers sowie jedes Menschen, der
seine Angen anch noch zu anderen Zwecken als zum
Lesen gebrauchk. Hier muß ich an die auffastende
Taksache erinnern, daß die bildenden Künstler durch
die von ibnen besonders geübke Beobachkung zualeich
dazu besähigt werden. auf anderen Gebieken sich er-
finderisch, in vielen FSllen sogar scköpferisch zu be-
weksen. Es ist kein Zufall, daß Männer wie Leo-
nardo und Dürer, um nur die bemerkenswerkesten Er-
fcheinunqen zu nennen, zugleich hervorragende For-
scher, Techniker, Crfinder waren. Solchen Zusam-
menbängen sollke die Pädagogik einmal gründlich eln
gewisienhaftes Skudium schenken; es würde dies
wahrsckeinlich zu einer ganz neuen Rangordnung der
LehrfScher führen. Ilnsere Schule hak noch lange nichk
genug die Beobachkung für die Bildung des Geistes
gewürdigk.

Aber Sehen ohne gleichzeitiges Zeichnen und an-
deres bild- und raumhaftes Gestalken ist weniger als
hakbe Arbeik. Abgesehen davon, daß letzteres die
Bevbachkung auf Schritk und Trikk nachzuprüfen und
zu berichtigen hak, enkwkckelk es produkkive Kräfie,
die dem Menschen in der Anlage angeboren flnd und

nach Bekätigung und Entwicklung verlangen, solange
der Mensch noch unverbildet isk. 3n solcher Arbeik
wird er sich seiner Krafk bewuht. Das Glück des
Schaffenden zu genießen, isk auch dem schon beschie-
den, der nur, oft sogar unker schwerer Mühe. eine
anspruckslose Nakurskudie zuwege bringk. Sie ist sein
eigen. Denn das. was auf dem Papier stehk und an-
geblich nur eine Wiederpabe sein soll, ist in Wirklich-
keik ein selbständiges geistiges Erzeugnis. mik dem der
Gegensiand nickk mehr viel gemein hak. 3n solcker
gestaltenden Arbeik ist der Mensch in seiner Tokalikäk
wirksam. Deshalb isk der Zeicken- und Kunstunker-
richk ein humaniskisches Bildungsfach, und von
Rechks wegen sollke er ein Grund- und Kernfach
sein, denn er verkritt eine wesenkliche und bedeukende
Seike der menschlichen Bildung: und er kann zudem
durch keinen anderen Ilnkerrichk ersetzk werden.

3ch wende mich nun gegen den Einwand, daß die
Freude am selbständigen künsklerischen Gelingen nur
ganz wenigen beschieden sein werde. weil vom Sehen
zum Wiedergeben ein weiker Schritt sei, und daß des-
halb das Zeichnen nicht allgemein verbindlich sein
dürfe bis in die obersten Klasien.

Hiergeoen muß zunächst gesagk werden, daß das
richtiae Sehen nichk am Anfang, sondern am Ende
der Aebung stehk, weil es erst gelernk werden soll,
und zwar durch die beständige Nachprüfung und Be-
rtchkigung durch das Zeichnen. Wie es um sein Sehen
stehk, wird einer erst gewahr, wenn er zekchnek. Die
meisten Menschen würden bei einer solchen Probe
auf ihr Sehen erschrecken über die Mangelhafiiakeik
desselben. Bom bloßen Wahrnehmen durch das Auge
bis zum verständnisvollen Sehen, zur Einsich kl, ist
ein weiker Weg. (Dieser sinnlich-geistige Vorgang ist
der phtlosophischen Bekrachtung sehr nahe verwandk.)
3st aber die Wahrnebmung zur Einsichk geworden, so
fällk der graphlsche Aüsdruck nichk mehr schwer. Er
stellk sich sozusaoen von selbst, aukomakisch. ein und-
häkk mik dem Sehen gleichen Schritt. Das Form-
gefühl und FormverstSndnis setzk flch dynamisch in
körperlichen Rhychmus um. Es dringt vor bis in
die Fingerspitzen. Das hat die Psvchologie und Phy-
stologie der Kunst erwiesen. Gewisse Handgriffe und
Prakkiken zwar müssen dem Anfänger einmal gezeigk
werden. Sie spielen jedoch keine wesenkliche Rolle.
Bon solcher Ark Technik ist die bildende Kunst viel
weniger beschwerk als beispielsweise der Ilnkerrickk
in den Svrachen, besonders den lebenden. Auch kech-
nische Aebungen, wie sie der Musiker nichk nmgehen
kann, bedarf der Zeichner in analoger Weise nichi:
im Gegenkeil, zuviel „Technik" verdirbk ihn. Also mik
diesem Einwand ist es nichks.

Endlich wird bezweifelk, daß das Zeichnen in dem
Maße allgemein lehrbar sei, um ein inkegrieren-
der Bestandkeil des Schukunkerrichks sein zu dürfen.
Dieser Zweifel ist völlig unbegründek. Zwar gibk es
Künste und Kunstgebieke. üie flch der üymittelbaren
Lehrbarkeik dyrch das Work enkziehen. Aber in fol-
chen Gebieken des „Unaussprechlicken" erziehk und
kehrk das B e i s p i e l, und zwar besier, als Wörke es
vermögen. Das Zeichnen gehörk, soweik die Form in
Bekrachk kommk, zu den lehrbarsken UnkerrichksfSchern:
denn die Form ifi ein Produkk des Verstandes, so
groß auch der Ankeil fein möge, den das Körperliche
und seelische Gefühl an ihr haben kann. Deshalb ist
ihr auch vpn der Seike des Berstandes, d. h. mik
 
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