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durchaus zum Schauen geboren. Wir fühlen nach,
mit welcher 3nnigkeit er dle Natur aufnahm, wenn
wir etwa lesen:
Denn dein Aerz hak viel und grof, Begehr,
Was wohl in der Melt der Freuden wär,
Allen Sonnenschein und alle Bäume,
Alles Meergestad und alle Träume,
In dein Herz zu sammeln miteinander.
Auch viele Gedichke Goeches sind ohne dieses Ber-
bundensein mit der Natur gar nicht denkbar (z. B.
Harzreise: Ueber allen Gipfeln). Goethe hatte auch
eine enge Beziehung zur bildenden Kunst. Er hat
steks Kunstwerke gesammelt und betrachtek. Aber die
eigentliche Quelle seiner geistigen Kraft waren doch
die Eindrücke, die er von der Natur empfing.
Solche tiefen Eindrücke von der Ratur hak nun
im besonderen der bildende Künstler. Bei ihm bleibt
es aber nichk beim Eindruck, bei der Zmpression. Btel-
mehr regt ihn die große Schau jehk zum eigenen
Schaffen an. Er schafft ein Kunstwerk. welches das
ausdrückt, was er vorher erlebt hat, und das in dem
Beschauer wieder dieses Erlebnis erzeugt. Ein sol-
ches Kunstwerk ist also immer zugleich Ausdruck eines
innern Erlebens, es ist zugleich llmpression und Ex-
pression, eine Grenze gibt es hier eben bei den grohen
Meistern nicht. Es erzeugk Ehrfurcht vor der Natur:
ste empfand auch der Künstler, denn der Ratur ver-
dankte er sein Erlebnis. Die Kunst, die so entstehk,
ist stcher nicht die einzig mögliche Kunst: aber sie ist
auch keine Kunst zweiken Ranges, ste wird von
keiner andern Art der Kunst übertroffen. Ein ge-
wisier Mahstab für den Wert einer Kunst ergibt sich
dabei aus der Stärke des Eindrucks, den sie auf
empfängliche, geistig hochstehende Menscken auszu-
üben vermag. Durch Kunstwerke dieser Art erzieht
der Künstler auch andere, weniger begnadete Men-
schen dazu, die Nakur groß zu sehen. Diese Kunst ist
der Nakur gegenüber wahryaftig, denn aus ihr spricht
die Ehrfurchk des Künstlers vor der Nakur. 3hre
Darstellungen sind also auch ln gewisiem Sinne
„richtig". Hier wird nuN eingewendet: Wenn es
Aufgabe der Kunst wäre, das Geschaute wahrhelks-
gekreu nachzubilden, so müßte eine Phokographie
ein hohes Kunstwerk sein; denn sie überkriffk an
Treue der Nachbildung jedes Gemälde. Sie wirkt
aber nicht künstlerisch. Also hak die Forderung der
wahrheitsgekveuen Nachbildung mit -er Kunst nichts
zu kun. Dieser ofk wiederholte Schluß scheink mir
einen Fehler zu enthalken.
Denken wir uns ekwa einen prächkigen Baum, der
schön in der Landschafk stehk. Er werde äus 50 Meter
Abstand phokographierk. Dann gibt die Abbildüng
allerdings alle Einzelheiten, Bläkker. Aestchen usw.
genau wieder. Sie gibk aber durchaus nlcht das
wieder, was ein Künstler sieht, wenn er vom gleichen
Standpunkk aus den Baum erbllckk und von seinem
Anblick ergrtffen wird. Würde umgekehrk der Künst-
ler den Baum so darstellen, wle ihn die Phokographie
zeigk, so würds er durchaus nichk das wiedergeben,
was er vorher gesehen hak, und was in ihm ein Er-
lebnis auslöste. lAkso: die Nakur gekreu abbilden
kann für den KLnstler niemals hSißen: „sie so ab-
bilden, wie fle wirklich ist", sondern nur: „sie so ab-
bilden, wie sie dem Künstler erscheink", und zwär in
dem Augenblick erscheint, wo er von ihr einen tiefen
Ssthekischen Eindruck gewinnk. sin diesem Sinn haben
große Künstler fich bemüht, die Nakur getreu darzu-
stellen, in diesem Sinne haben sie die Nakur unab-
lässig studiert, nicht aus irgend einer Theorie herays,
sondern aus innerstem Bedürfnis. Nach dieser Auf-
sassung sind nicht nur die herrlichen asiyrischen Relief-
darskellungen von Löwen und Wildpferden „richkig"
oder die Dürer'schen Tiere und Rasenstücke, sondern
z. B. auch Leonardos Kampf zwischen Löwe und
Greif oder die Rötelzeichnung Michelangelos, die
meist als „Raserei" bezeichnek wird, oder der Drache
in Böcklins Drachenschlucht. Alle diese Darstellungen
zeugen von einem innigen Berbundensein mit der
Natur und von einer kiefen Ehrfurchk vor der Natur.
Ehrfurcht vor der Nakur! könnten wir fie unsern
Schülern mikgeben, welcher Gewtnn wSre da-! Noch
vor zwanzig siahren HStken sich alle Zeichenlchrer
freudig zu diesem Ziel bekannt. Tun fie es heuke
noch?.-
V Diese Art von Kunst, die auf einem engen Ber-
bundensein mik der Nakur beruhk und immer wteder
an die Eindrücke anknüpfk, die wir von ihr em-
pfangen, scheink mir für. dle Schule der nakürliche,
gesunde NSHrboden zu sein.I.Es scheink mir, daß tzier
für alle Schüler ein GeMnn erwachsen kann und
zwar ein künstlerischer Gewinn. nichk ekwa nur elne
Bereicherung an wiffenschastlicher Etnfichk. Me
Kunst hat gewlß noch andere Mögkichkeiken, dle nickk
weniger in die Tiefe gehen. Es kann in einem Künfi-
ler das rein Innerliche, ekwa das Religiös-Mystische,
so stark sein, Laß diese starke innere Spannung
gleichsam alle Schranken sprengk. Es KSnnen so
Werke enkstehen, die von fiSrkstem seelischem Aus-
druck sind, wShrend die Beziehungen Zur Nakur zu-
rücktreken. Der Lebrer soll den Schülern aqch für
solche Merke die Augen öffnen, «mso mehr, als
gerade in unserer Zeit viele Künfiler um solche Ziele
ringen. Ich glaube aber nichk, däß es rkchkig würe,
die Kunsterziehung vorwiegend auf dlese Form des
Expreffionismus einzustellen. Bei vielen Schülern
würde man hier dauernd auf Ilnvermögen fiotzen,
andere würde man zu überkrichenem SubjekkiviSmus
verleiken.
Einen enffchiedenen Forkschritk baben die letzken
Iahre gebrachk. fin den .unkeren Klaffen lühk män
der Phankasie der Schüler steien Lauf. Dies schelnk
mir hier dem Nakürlichen Bedürfnis -es KindeS zu
entsprechen. Dle Arbeiten der Kfeinen machen meip
einen durchaüs wahrhaftigen Eindruck. Das Kind
gibt mtt kriebmüßiger -Freude Eindrücke wieder, die
es irgendwo aufgenommen hat. Diese Kinderarbeiken
üben auf mich wenlgstens einen besonderen Reiz aus.
Ich glaube aber, ste werden oft LberschStzk. Si« haben
allerdlngs eine Eigenfchaft, die man vom echten
Kunstwerk fordern muß, nSmkich eben NatvikSt, d. h.
Kindlichkeit. Sie ifi eben beim Kind daS Rakürliche.
Wenn dkese Kleinen heranwachsen, werden aber die
meisten krohdem durchaus keine Künstler, sondern
ganz gewöhnliche Philister. Das besondere des Künst-
lers liegk eben darln, datz rr innerlich reif wkrd und
flch krohdem -le empfSngliche Seele und die RaivitSk
des Kindes bewqhrk. 3ch glaube, daß es für die
meisten Kinder nicht günstig ist, wenn man fie zu
lange in dieser Phankafie- und MSrchenwelk festhäkk.
Die Zeit der Feenköniglnnen, RSuberhaupkmLnner
und Wunderblwmen gehk vorüber. Dann follke man,
wie ich glaube, rechkzeikig Anschlutz fuchen an die
Natur, nicht um nakurwiflenschastliche Skudien zu
kreiben, sondern nm AUge und Geist zu fchulen im
künstlerischen Schauen.
durchaus zum Schauen geboren. Wir fühlen nach,
mit welcher 3nnigkeit er dle Natur aufnahm, wenn
wir etwa lesen:
Denn dein Aerz hak viel und grof, Begehr,
Was wohl in der Melt der Freuden wär,
Allen Sonnenschein und alle Bäume,
Alles Meergestad und alle Träume,
In dein Herz zu sammeln miteinander.
Auch viele Gedichke Goeches sind ohne dieses Ber-
bundensein mit der Natur gar nicht denkbar (z. B.
Harzreise: Ueber allen Gipfeln). Goethe hatte auch
eine enge Beziehung zur bildenden Kunst. Er hat
steks Kunstwerke gesammelt und betrachtek. Aber die
eigentliche Quelle seiner geistigen Kraft waren doch
die Eindrücke, die er von der Natur empfing.
Solche tiefen Eindrücke von der Ratur hak nun
im besonderen der bildende Künstler. Bei ihm bleibt
es aber nichk beim Eindruck, bei der Zmpression. Btel-
mehr regt ihn die große Schau jehk zum eigenen
Schaffen an. Er schafft ein Kunstwerk. welches das
ausdrückt, was er vorher erlebt hat, und das in dem
Beschauer wieder dieses Erlebnis erzeugt. Ein sol-
ches Kunstwerk ist also immer zugleich Ausdruck eines
innern Erlebens, es ist zugleich llmpression und Ex-
pression, eine Grenze gibt es hier eben bei den grohen
Meistern nicht. Es erzeugk Ehrfurcht vor der Natur:
ste empfand auch der Künstler, denn der Ratur ver-
dankte er sein Erlebnis. Die Kunst, die so entstehk,
ist stcher nicht die einzig mögliche Kunst: aber sie ist
auch keine Kunst zweiken Ranges, ste wird von
keiner andern Art der Kunst übertroffen. Ein ge-
wisier Mahstab für den Wert einer Kunst ergibt sich
dabei aus der Stärke des Eindrucks, den sie auf
empfängliche, geistig hochstehende Menscken auszu-
üben vermag. Durch Kunstwerke dieser Art erzieht
der Künstler auch andere, weniger begnadete Men-
schen dazu, die Nakur groß zu sehen. Diese Kunst ist
der Nakur gegenüber wahryaftig, denn aus ihr spricht
die Ehrfurchk des Künstlers vor der Nakur. 3hre
Darstellungen sind also auch ln gewisiem Sinne
„richtig". Hier wird nuN eingewendet: Wenn es
Aufgabe der Kunst wäre, das Geschaute wahrhelks-
gekreu nachzubilden, so müßte eine Phokographie
ein hohes Kunstwerk sein; denn sie überkriffk an
Treue der Nachbildung jedes Gemälde. Sie wirkt
aber nicht künstlerisch. Also hak die Forderung der
wahrheitsgekveuen Nachbildung mit -er Kunst nichts
zu kun. Dieser ofk wiederholte Schluß scheink mir
einen Fehler zu enthalken.
Denken wir uns ekwa einen prächkigen Baum, der
schön in der Landschafk stehk. Er werde äus 50 Meter
Abstand phokographierk. Dann gibt die Abbildüng
allerdings alle Einzelheiten, Bläkker. Aestchen usw.
genau wieder. Sie gibk aber durchaus nlcht das
wieder, was ein Künstler sieht, wenn er vom gleichen
Standpunkk aus den Baum erbllckk und von seinem
Anblick ergrtffen wird. Würde umgekehrk der Künst-
ler den Baum so darstellen, wle ihn die Phokographie
zeigk, so würds er durchaus nichk das wiedergeben,
was er vorher gesehen hak, und was in ihm ein Er-
lebnis auslöste. lAkso: die Nakur gekreu abbilden
kann für den KLnstler niemals hSißen: „sie so ab-
bilden, wie fle wirklich ist", sondern nur: „sie so ab-
bilden, wie sie dem Künstler erscheink", und zwär in
dem Augenblick erscheint, wo er von ihr einen tiefen
Ssthekischen Eindruck gewinnk. sin diesem Sinn haben
große Künstler fich bemüht, die Nakur getreu darzu-
stellen, in diesem Sinne haben sie die Nakur unab-
lässig studiert, nicht aus irgend einer Theorie herays,
sondern aus innerstem Bedürfnis. Nach dieser Auf-
sassung sind nicht nur die herrlichen asiyrischen Relief-
darskellungen von Löwen und Wildpferden „richkig"
oder die Dürer'schen Tiere und Rasenstücke, sondern
z. B. auch Leonardos Kampf zwischen Löwe und
Greif oder die Rötelzeichnung Michelangelos, die
meist als „Raserei" bezeichnek wird, oder der Drache
in Böcklins Drachenschlucht. Alle diese Darstellungen
zeugen von einem innigen Berbundensein mit der
Natur und von einer kiefen Ehrfurchk vor der Natur.
Ehrfurcht vor der Nakur! könnten wir fie unsern
Schülern mikgeben, welcher Gewtnn wSre da-! Noch
vor zwanzig siahren HStken sich alle Zeichenlchrer
freudig zu diesem Ziel bekannt. Tun fie es heuke
noch?.-
V Diese Art von Kunst, die auf einem engen Ber-
bundensein mik der Nakur beruhk und immer wteder
an die Eindrücke anknüpfk, die wir von ihr em-
pfangen, scheink mir für. dle Schule der nakürliche,
gesunde NSHrboden zu sein.I.Es scheink mir, daß tzier
für alle Schüler ein GeMnn erwachsen kann und
zwar ein künstlerischer Gewinn. nichk ekwa nur elne
Bereicherung an wiffenschastlicher Etnfichk. Me
Kunst hat gewlß noch andere Mögkichkeiken, dle nickk
weniger in die Tiefe gehen. Es kann in einem Künfi-
ler das rein Innerliche, ekwa das Religiös-Mystische,
so stark sein, Laß diese starke innere Spannung
gleichsam alle Schranken sprengk. Es KSnnen so
Werke enkstehen, die von fiSrkstem seelischem Aus-
druck sind, wShrend die Beziehungen Zur Nakur zu-
rücktreken. Der Lebrer soll den Schülern aqch für
solche Merke die Augen öffnen, «mso mehr, als
gerade in unserer Zeit viele Künfiler um solche Ziele
ringen. Ich glaube aber nichk, däß es rkchkig würe,
die Kunsterziehung vorwiegend auf dlese Form des
Expreffionismus einzustellen. Bei vielen Schülern
würde man hier dauernd auf Ilnvermögen fiotzen,
andere würde man zu überkrichenem SubjekkiviSmus
verleiken.
Einen enffchiedenen Forkschritk baben die letzken
Iahre gebrachk. fin den .unkeren Klaffen lühk män
der Phankasie der Schüler steien Lauf. Dies schelnk
mir hier dem Nakürlichen Bedürfnis -es KindeS zu
entsprechen. Dle Arbeiten der Kfeinen machen meip
einen durchaüs wahrhaftigen Eindruck. Das Kind
gibt mtt kriebmüßiger -Freude Eindrücke wieder, die
es irgendwo aufgenommen hat. Diese Kinderarbeiken
üben auf mich wenlgstens einen besonderen Reiz aus.
Ich glaube aber, ste werden oft LberschStzk. Si« haben
allerdlngs eine Eigenfchaft, die man vom echten
Kunstwerk fordern muß, nSmkich eben NatvikSt, d. h.
Kindlichkeit. Sie ifi eben beim Kind daS Rakürliche.
Wenn dkese Kleinen heranwachsen, werden aber die
meisten krohdem durchaus keine Künstler, sondern
ganz gewöhnliche Philister. Das besondere des Künst-
lers liegk eben darln, datz rr innerlich reif wkrd und
flch krohdem -le empfSngliche Seele und die RaivitSk
des Kindes bewqhrk. 3ch glaube, daß es für die
meisten Kinder nicht günstig ist, wenn man fie zu
lange in dieser Phankafie- und MSrchenwelk festhäkk.
Die Zeit der Feenköniglnnen, RSuberhaupkmLnner
und Wunderblwmen gehk vorüber. Dann follke man,
wie ich glaube, rechkzeikig Anschlutz fuchen an die
Natur, nicht um nakurwiflenschastliche Skudien zu
kreiben, sondern nm AUge und Geist zu fchulen im
künstlerischen Schauen.