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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 6.1926

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Heft 6 (Juni 1926)
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Daiber, Theodor: Über die Entwicklung des Kunstunterrichts an den höheren Schulen
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https://doi.org/10.11588/diglit.23685#0127

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115

ziehung. Wäre er heute so allgemetn, wie der Der-
fasser annimmt, so läge in dieser Tatsache, die ich
nicht zu bejahen wage, eine ungeheure Änklage gegen
unsere bisherigen Erziehungsysteme' und -methoden.
Sollke da nicht gerade eine stärkere Auswirkung der
künsllerischen Kräfte in unserer Erziehung berufen
sein, den jungen Menschen vor der Dertrocknung und
Derödung seines Seelenlebens zu bewahren?

Man darf nun auch, angesichts des Zweckgekriebes,
das wir Leben nennen, und in das wir alle einge-
spannk sind, nichk befürchken, dah unsere Kinder zu
lange In ihrer Phankasie- und Märchenwelk befangen
bleiben. Das Märchen hat eine grohe erzieherische
Mtssion: deshalb nimmt man es in der Erziehung
heute ernster denn je. Wir erkennen in unseren
alten Volksmärchen die lehken Schatten abgestor-
bener Mykhen aus der Kinderzeik der Völker. Sie
befrledlgen die nakürliche Luft am Munderbaren und
sind niemals blotzeS Farbenspiel der Phantasie.
(Gebr. Grimm.) Die richkig geleikeken Kinder lieben
die Märchen leidenschaftlich bis in die Aeifezeit hin-
ein. Trüge das bildhafte Gestalten dazu bei, den
Glauben des Kindes an die Wahrheik des Märchens
allmählich in die Fähigkeit des inneren Schauens
seiner Schönheit zu verklären, so erfüllte es eine
hohe Aufgabe. Es trüge mik dazu bei, daß die mik
der einsehenden Reife sich bildende MeltklUgheit
nicht die Einfalt des Herzens, eben das, was wir
Naivitäk heitzen, zerstört, daß dem Kinde jene ideale
Gesinnung erhalten bleibk, ohne die es keine ganzen
Menschen gibk. Wer sich als Erwachsener nicht mehr
freuen kann über die tiefsinnige Äalvikät unserer
Volksmärchen, die freilich jedem irgendwte gearteten
Rationalismus unzugänglich ist, ist ein blasierter
Mensch, ein armer Mensch, eben ein „ganz gewöhn-
licher Philtster". Diese Dinge legke ich in meinem
eben erschienenen Werkchen: „Das bildhafte Gestal-
ken als Äufgabe der Volserztehung"* eingehend dar.
Dort führke ich auch aus, welche besonderen, durch
andere Stoffe nichk leicht zu ersetzenden Vorzüge daS
Märchen für das bildhafte Gestalken hak. Än diesen
Phankasiestofen kann der Schüler seine Erfindungs-
kraft, seine Formen- und Farbenphantasie unge-
hemmk bekätigen. Er kann aus ihnen heraus Form-
und Farberlebnisie enkwickeln, die durch den Der-
gleich mit Nakurkatsachen nichk beelnträchtigk und
geschwächt werden. So wird er an diesen Skoffen
in diesem Lebensalter am ehesten das Glück unge-
trübken Schaffens aus den dem bildhafken Gestalken
eigenen Mitteln erfahren. Frühzeitig wtrd so die
Grundlage zu jenem nakurwüchsigen Gestalten ge-
schaffen, die aller Bildkunst Mukter ist.

Herr Oberstudiendirekkor Daiber und mit thm wohl
noch manche Schulmänner in leitender Stellung wer-
den nun aber ftagen: Wo bleibt das Nakurstudium?

Darauf ankworke ich: Es gibk eln mlttelbares und
eln unmittelbares Naturstudium. Das eigentriebig
zeichnende Kind zeigt uns, worin das erstere besteht
und wie es vor sich geht. Sein bildhafter Ausdruck,
den es ja schon vor der Schule, sofern es Gelegenheit
und Mittel dazu hak, selbsttätig aus sich heraus ent-
wickelt, ist das Mittel, seine Weltanschauung (das Work

* BtldhasteS Gestalten als Aufgabe der Bolköerztehnng.
Naturaemäßer Weg im Unterricht von Prof. G. Kolb. Derlag
tzollam» L ^losenbans. StuttaarL

inl wörtlichsten Sinne genommen) zu bilden und seine
Weltanschauung auszudrücken, Diese Welkanschau-
ung ist das Ergebnis vielfälkiger Beobachtung und
Erfahrung, die sich aber nichk alleln auf Sehwahr-
nehmungen gründen, sondern zunächst und mehr noch
auf Tastwahrnehmungen. Das Kind sucht auf diese
Weise seine Umwelt zu „begreifen". Sein btldhafles
Darstellen dient also nichk nur dem Ausdruck, sondern
auch dem Bilden und Klären seiner Vorstellungen.
Es gewinnk eben aus seinem bildhaften Darstellen
fortgeseht den Anstotz zum Beobachten und hak so,
bis es zur Schule kommk — immer vorausgesetzt, eS
habe vorher Gelegenheit und Mittel zur selbsttatigen
Entwicklung seiner Bildsprache — eine Menge von
Beobachtungen an den Dingen seiner Umwelk ge-
wonnen. 3e mehr es gezeichnet hat, desto klarer und
reicher ist seine Vorstellungswelt. Damit hat es die
Grundlage zum späkeren Ausbau seines Geisteslebens
gelegk. Manche Psychologen sind der Anstäft, die
Bedeukung und die Summe seiner geistigen Ärbeit
bis zum sechsien Lebensjahr sei größer alS die des
späteren Lebensabschnittes.

stst das n»n kein Äaturstudium? 2ch melne, eS ist
wertvollstes und fruchtbarstes Naturstudium, wenn eS
auch in der Hauptsache unabsichklich und mehr oder
weniger unbewußt vor sich geht. Zu selner Zelt wird
es schon ins Licht des Bewutzkseins gehoben. Dafür
sorgt die „Weisheit der Nakur , dte sich in diesem an
Äätseln so reichen psychologischen Vorgang auswirkt.

An diese Weisheit der Äatur, die über all unserer
Weisheit stehk, wenden wir uns in aller Demut im
Unkerricht. Wir belauschen ihre Mittel und Wege
und stellen sie in den Dtenst unserer Erziehungsauf-
gabe. Durch das inkuikive, phantasiemäßige Gestalten
gewinnk das Kind auch während der Schulzeit .von
tnnen heraus den Anstoß zum Beobachten. („DaS
Gefühl und die Phankasie ist der unentbehrliche Helfer
des Verstandes." Rudolf Hildebrand^) Das kommk
in seinen Arbeiken überzeugend zum Äusdruck. Man
vergesse nicht: Das gefühlsbekonke phankastemäßtge
Auffasien und Darstellen ist eben die naturgemäße
Art des Kindes, die Melt aufzufassen und in. sich
nachzuschaffen. Das Kind setzt so, wenn es in oer
Schule richtig geführk wird, naturgemäß nur das fork,
was schon vor der Schulzeik stch anbaynte, also oas,
was wir mitkelbares Äaturstudium oder mlt
Prof. Aiemerschmid (stehe Kunst und Iugend 1926,
Heft 2) Naturerschauen heißen.

So geführt, wtrd üer junge Mensch, sobald er dte
dazu erforderliche körperliche und geistige Aelse er-
langt hat, auch zum unmitkelbaren Äakur-
studium angeleitet werden KSnnen. Älr bahnen es
auf der Unkerstufe langsam an, pflegen es auf der
Miktel- und Oberstufe als k.unstbetonkes Dar-
stellen (die Gegenstände flnd Träger von Farb- und
Formmotlven und rhykhmischer und dynamischer
Kräfte) und namenllich als streng sachliches,
truktives Zeichnen (dle Schüler sollen dte Bil-
ungs- und Wachstumsgesetze in der Natur, dle
Zweck- und Funktionsformen von Werkformen be-
obachken und sachlich klar mit den sparsamsten Mik-
teln darstellen.) Das sachliche Zeichnen wird als vor-
stellungsbildendes Gedächtniszeichnen und älS Nakur-
studium unmittelbar vor dem Gegenstand geübt. Mik
dem Kunstunterrtchk läßk flch dieses, dem objekkioen,
erkennknismäßigen Nakurbeschreiben und Nakurerfor-
schen dienende Zeichnen nichk organisch verbinden.

MIIÜ i'olsvi'N 211m
 
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