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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 6.1926

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Heft 8 (August 1926)
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Adler, Friedrich: Dynamisches Zeichnen
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https://doi.org/10.11588/diglit.23685#0182

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paßt, in welchem das Aufgenommene die Dynamis
in uns in Schwingung bringt, und er übersah, daß
diese es ist, welche ihre Schwingungen auf die Hand,
das Werkzeug, überträgt.

Die Stärke der Abgabe ist natürlich abhängig von
öem Maß an dynamischer Kraft eines Menschen und
oon seiner Fähigkeit, sie nuhbar zu machen, wir sagen
schlechthin und unklar: von seiner Begabung. 3st
diese dynamische Kraft nicht spürbar, dann fehlt eben
die Begabung und es lohnt kaum anzufangen. Zch
möchte aber behaupten, daß die meisten Menschen
ein gewisses Mah von Dynamik in sich tragen, nur
äußert sie sich verschiedenförmig, bald musikalisch,
bald tänzerisch, bald mimisch, und in unserem Falle
zeichnerisch oder graphisch. Bevor ich dazu übergehe,
meine Methode zu erläutern, scheint es mir Pflicht
zu sein, des einzigen Pädagogen zu gedenken, der
mir bisher begegnet ist und in dessen Bahnen ixh
weiterzugehen bestrebt bin, Wilhelm v. Debschih^
Lr sowohl als Hermann Obrist waren die eigent-
lichen geistigen Borahner und Künder des Expressio-
nismus in Deutschland. Schon v. Debschih sagte:
„Dieser Baum sieht nicht so oder so aus, sondern er
tut so oder so", damit wollte er sagen, wir empfinden
ihn dynamisch so oder so und aus dieser Empfindung
heraus kun wir auch so oder so mit einem Werkzeug,
ganz gleich mit welchem. Wem fiele dabei nicht van
Gogy ein, den ich für einen der stärksten Dyna-
miker halte, oder Daumier oder Hokusay oder
Franz Marc, kurz: alle wahrhafk Großen sind
eben von Grund aus dynamisch.

Meine ersten Versuche liegen weit zurück. Ich
stellte sie 1910 mit zehn- bis 12jährigen Bolksschülern
auf dem Lande an, die noch keinen Zeijchenunterricht
genossen hatten. Ich gab ihnen Trauben von Iohannis-
beeren in die Hand. Dann machke ich durch Hand-
bewegungen die Erscheinung der Iohanniskraube klar
und ließ diese jKugel-) Beweguna zunächst dynamisch-
gymnastisch ausführen. Die Sache sah nicht aus wie
Zeichenunterricht, sondern wie „Müllern". Dann erst
gab ich den Kindern öie Kreide in die Hand und lieh
sie aus das Papier los, sprach dabei von Anordnung,
von Groß, Klein, Gedrängt und Locker, und das
Resulkak der ersten Stunde war ganz erstaunlich. An
Stelle des mühseligen, sklavischen Abzeichnens war
ein Nachschaffen getreten und auf den Blättern sah
man allerdings nicht eine bestimmte Traube in dieser
oder jener Lage, sondern den Typus dieser Trauve.
Diesen Weg gmg ich weiter, ich fand, datz man dem
Schüler den Weg zwischen Hand und Papier mög-
lichst abkürzen müsse. Bleistift ist ein Werkzeug, das
insolge seiner Starrheit den dynamischen Strom des
Anfängers unterbindet, seine Spitze verhindert und
hemmt den spontanen Niederschlag. Kinder und Er-
wachsene zeichnen hemmungslos mit dem Finger ekwa
auf einer beschlagenen Fensterscheibe oder in den
glakken Sand und die Eiszeitzeichnungen sind mit
Rötel und anderen sarbigen, konsistenten Erden in
Stückform gezeichnet. Seit zwei llahren beginnen
meine Schüler, wenn ihnen Form und Duktus eines
Gegenstandes dynamisch klar ist, mit einem zwei
Zentimeter grotzen Stückchen abgebrochener Kohle,
das zwischen Daumen und Zeigefinger mit der Länzs-
seite auf dem Papier gleitend geführt wird. Nach
ganz wenigen, mehr gymnastisch ausgeführten Be-
wegungen auf der Fläche gewöhnt sich der Anfänger
schnell an diese Führung des Werkzeugs. Anstatt

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der Angst vor dem Werkzeug stellt sich sehr schnell
ein gewisses freudlges Körpergefühl ein. Dieses
Gleiten mik der Kohle bald sanft, bald straff, bald
gerade und schnell, bald gebogen und langsam, bald
wellig, bald zackig, kurz diese soeben selbst crprobte
und erlebte Fähigkeit des Lenkens der Hand, dieses
Sichtbarwerden der eigenen inneren Dynamik, dieses
Wollen, dem ein fast unmiktelbares Können folgt,
gibt dem Anfänger Mut, Freude und Berkrauen.

Ein Belspiel. Man zeige zweii Schülern auf beweg-
tem Wasser vertäute Boote. Man sage dem einen
nur: Zeichne das, dem andern aber: Zerlege das
Motiv in die zwei bis drei Rhythmen, aus welchen
der Reiz des Motivs besteht, nämlich erstens: die so
und nicht anders bewegte Linie der Wasseroberfläche,
zweitens: im Gegensatz dazu die werkmWge, feste
und unveränderliche Linie oder Kurve der Bootskiele.
drittens: die starre Senkrechte der schwankenden
Maste. Während der eine Schüler stch abmüht um die
allgemeine Erscheinung, um Berkürzungen, um zufäl-
lige Neigungen, wird der andere aus diesen drei ein-
mal erkannten und dynamisch gefühlken Komponenken,
die „den einzig ruhenden Pol in der Erscheinungen
Flucht" bedeuten, seine Booke erstehen lassen.

Nicht anders verhälk es sich, wenn es sich um Blu-
men, Tiere und Menschen handelt. Auch sie müssen
zunächst auf eine Formel gebracht werden, deren
Elemente dynamisch empfunden und ebenso oder noch
verstärkk wiedergegeben werden können. Das Auge
ist nur Werkzeug zur Wahrnehmung, die innere Er-
griffenheit allein wirkt dynamisch und bewirkt den
graphischen Ausdruck, das bildliche oder plastlsche
Gleichnis der vergänglichen Dinge. Die auf solchem
Weg gewonnenen Formeln sind auch dem Nichk-
schöpferischen ein nie verstegender Quell der Freude,
sie nähren sein geistiges Leben, seine Phantasie,und be-
sähigen ihn, viel mehr Elndrücke zu beherbergen, viel
mehr Erinnerungen aufzuspelchern, als es chm durch
das „Abzeichnen" ermöglichk gewesen wäre. Mit
einem Work, solch ein junger Mensch wird lnnerlich
reich sein, er kann mit seinem Pfunde wuchern. Sein
Blick für das Leben, für die Welk wird stch schärfen
im gletchen Maße, wie die Machemakik lein logisches
Denken schärfen soll. Dann ist der Zelchemrnkerricht
kein Nebenfach mehr, sondern dasjenige Fach, in
welchem alle übrigen lebendlg und flchchar werden.
Die Mekhode dazu ist gefunden.

Gedanken tiber die Erziehong des Zeichenlehrers--^^-

Es ist ganz klar, datz der Zeichenlehrer nicht die
Aufgabe hat, seine Schüler zu Künstlern zu erziehen.
Er hat vielmehr die Mission, dem jungen Menschen
im Gegensatz zu seiner gedanklichen Erziehung die
sinnlich-begriffliche Anschauung seiner Umwelt zu ver-
mitteln.

2m gleichen Maße, wie auf der Schule Lesen,
Schreiben, Rechnen gelehrt wird, soll der Werdende,
der Schüler, seine graphischen Ausdrucksmittel be-
reichern. Dem Gebrauch des Wortes und der Zahl
muß hinzugefügt werden die Sichkbarmachuna der
die Dinge umgrenzenden Linie und der sie umkleiden-
den Form. Es ist für jeden Menschen erforderltch, mil
Strichen und Farbflecken zu sagen, was nicht ebenso
schnell und nicht ebensogut mit Worken gesagt wer-
den kann. Zeichnen ist also nicht mehr und nichk weni- >
ger als ein erweikerkes dchreiben, elne Mitteilung, s
und es spricht nur für die Größe und Einheit einer
 
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