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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 1 (1. Oktoberheft 1904)
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Avenarius, Ferdinand: Wo stehen wir?
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0017

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kunst der Frauen hat sich wesentlich erhöht und vertieft. Die großen
Meister des „silbernen Zeitalters" unserer Literatur verdrängen nach
und nach die, welche bei ihren Lebzeiten vor ihnen standen: Hebbel,
Mörike, Keller erscheinen je weiter wir schreiten, je größer, und
werden vom jüngeren Geschlechte der ernsten Schriftsteller als Mahner
und Führer anerkannt. So dürfen wir wohl sagen: Wir sind im
Ueberwinden der Dekadenz. Große Schöpsungen allerdings, Dich-
tungen, die wir als Geschenke des Menschengeistes an die Jahrhunderte
empfänden, wüßten wir aus den letzten fünf Jahren weder aus epischer,
noch lyrischer, noch dramatischer Poesie zu nennen. Und die Lieblinge
des Tages sind natürlich hente wie immer die Verwerter, die die
Errungenschasten der Großen der Menge eingänglich machen.

Fortschritte immerhin zeigt auch das gegenwärtige Schasfen aus
dem Gebiete der Musik. Wir kommen allmählich aus dem Epi-
gonenzeitalter heraus. Jnnerhalb des Zeitstils, den man früher zu
Unrecht schlechtweg den „Wagner-Stil" nannte, unterscheiden wir nun
Persönlichkeiten. Zuerst gej^chah das auf dem Gebiete des Liedes,
wo Hugo Wolf durch die Tat überzeugte, Laß eine Weiterentwicklung
möglich sei in immer innigerer Verschwisterung von Ton und Wort,
und wo nun eine ganze Reihe von Talenten bis auf das jüngste,
Th. Streicher, mit eigenen Charakterköpfen dasteht. Jn der schildern-
den Musik kommt man ziemlich allgemein zurück von den allzu detaillier-
ten Programmen. Mahler befehdet das Programm überhanpt, be-
tont wieder das rein, aber durchgeistigt Musikalische und erweitert
die bei Richard Strauß sich immer mehr verdichtende Symphonie
zu einem abendfüllenden, Orchester, Chor und Soli ins Treffen
sührenden musikalischen Zyklus. Bei der Oper gleichsalls schars um-
rissene Gesichter — wer kann Schillings und .Psitzner verwechseln,
obgleich sie beide Pathetiker sind? Jn der Volksoper sind Hnmper-
dinck, Kienzl, Blech, Siegfried Wagner selbständige Typen. Eugen
d'Albert ist als vielfältiger Anbahner auch als Komponist anerkannt.
Aus andern Gebieten der Tonkunst blüht gleichfalls Leben auf, nur
die Kammermusik liegt immer noch brach.

Auch unter den bildenden Künstlern ist in den letzten
Jahren keiner ausgetaucht, den wir schon als ein Genie begrüßen
dürften. Finden wir in der Literatur und in der Musik manche
kleine Talente, die durch große Gebärden selber groß scheinen möch-
ten, so gibt's ihrer auch hier. Seit Böcklin und Klinger auch „Ge-
danken" künstlerisch gestalten konnten, weil sie mit gewaltiger Leiden-
schaft große Jdeen fühlten nnd in^der Seherglut dieses Fühlens
Gestalten erschauten, ist bei uns als Schattenspiel neben dieser Körper-
welt die Höhendunst-Malerei und Höhendunst-Grisfelkunst ausgegangen.
Zum Teil schlechthin vergebliches Mühen einer gerngroßen Schwäche,
nimmt sie zu anderm Teil große Gegenstände zum Vorwande, um
an ihnen ein wirklich starkes malendes oder zeichnendes Können Parade
exerzjeren zu lassen — wer seelische Bereicherung verlangt, dem wird
sie als eine Jrresührung gerade dann gefährlich scheinen. Bon
solchen Erscheinungen abgesehen macht Alles in Allem die Malerei
nnserer Zeit den Eindruck zwar nicht des schnellen Wachsens und
Gewinnens, aber des ruhigen Reisens und Klärens. Die Genre-

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