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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1904)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0483

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G Eine Kultursprache

Jch hatte durch einen Zufall Ge-
legenheit, vier sehr verschieden ge-
richtete Menschen, einen ultramvn-
tanen Redakteur — außer Diensten,
aber wohl nur altershalber — einen
orthodoxen Lutheraner, einen So-
zialdemokraten, der aus sreireli-
giöser Familie stammte, und einen
sehr „modern" gerichteten jungen
Künstler an verschiedenen Orten und
zu verschiedenen Zeiten, jedesmal
unter vier Augen, von Goethe spre-
chen zu hören. Gemeinsam war
den vieren nichts als ein gewisses
Maß geistiger Regsamkeit, dann aber
ein starkes ästhetisches Verständnis.
Sonst waren sie in allem von-
einander verschieden. So betonren
sie auch sehr verschiedene Seiten
des Goetheschen Wesens. Der Or-
thodoxe bewunderte die formale
Schönheit seiner Kunst; er kam auf
den Vorwurf der „Unsittlichkeit" und
sagte, wer sein Leben in solcher
Kraft und Klarheit auf zweiund-
achtzig Jahre gebracht habe, der
sei nicht „unsittlich" gewesen. Der
Zentrumsmann fand im zweiten Teil
des Faust die ganze Weltgeschichte
abgespiegelt. Der Sozialdemokrat
schwärmte von Goethes Kunst zu
lieben und zu trinken, wobei das
Gespräch denn bald ergab, daß
wirklich die Kunst des Genießens
gemeint war. Der junge Künstler
lebte geistig in Goethes Spruch-
weisheit. Seine Bedürfnisse nach
Klarheit und Erkenntnis über Welt
und Kunst stillte er hier. Sein
Tagesdenken rankte sich geradezu um
einzelne „Goetheworte", so wie es
bei unsern Frommen häufig mit
Bibelworten geschieht. Alle vier
waren, jeder für sich, aus eigenem
Antrieb auf das Thema Goethe ge-
kommen. Allen vieren war beim

Sprechen von ihm ein ganz be-
stimmter Ausdruck von Andacht ge-
meinsam. Allen vieren merkte man
es ab, in irgend einem Sinne fühl-
ten sie hier sich verstanden.

Hier scheint ein neuer gemein-
samer Kulturboden sich zu bilden.
Vielleicht gewinnen wir hier etwas
von dem, wonach wir alle aus-
schauen. Das gemeinsame Erlebnis,
die gemeinsame Grundstimmung den
Dingen gegenüber.

Wir sind über Goethe hinaus?
Vielleicht ist das in gewissem Sinne
gar nicht so falsch als es klingt,
und vielleicht ist es zugleich die
Grundbedingung dafür, daß er uns
das werden kann, wovon wir spra-
chen — der gemeinsame Boden. Es
ist nämlich damit nicht gemeint, daß
er und seine besondere Stellung-
nahme zu allen Problemen das ge-
meinsame Ziel sein soll. Son-
dern wirklich der Boden. Deut-
licher: Die Sprache. Die Kultur-^
sprache. Das was — ganz ab-
gesehen von allen religiösen Fra-
gen — die Bibel uns einmal war
und längst aufgehört hat zu sein.

Es gab eine Zeit in unserem
Volke, wo die biblische Art, die
Dinge zu sehen, die Begrifse zu
bilden, die Gefühle zu gestalten, so
sehr die allgemein herrschende war,
daß auch der Atheist, um sich ver-
ständlich zu machen, in diesen Be-
griffen und Vorstellungen sich aus-
drücken mußte. Er mochte entgegen-
gesetzt stehen, ja — ein noch schwie-
rigerer Fall — schräg zu ihnen,
er mußte sich und seine Hörer an
ihnen orientieren und er mußte das
nicht nur um ihnen verständlich zu
werden, sondern auch um sich selbst
verständlich zu sein. Denn sie
waren seine natürliche Ausgangs-
stellung. Seine Anschauung war an


Runstwart XVIII, 6
 
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