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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 4 (2. Novemberheft 1904)
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Avenarius, Ferdinand: Literarischer Ratgeber des Kunstwart für 1905, [9]: Philosophie und Psychologie
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0317

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Unter Philosophie versteht man meist eine allgemeine Lebens- und Welt-
anschauung. Wer sich klar zu werden sucht über seine Ansprüche an das Leben,
über seine Stellung zu allerlei Tages- und Zeitfragen, über Wert und Unwert
gesellschaftlicher Einrichtungen, der gilt den meisten als Philosoph. Von den
vielen, die so ohne tiefere Begründung Jdeale gestalten und zerstören, seien
einige der besten unter den Modernen genannt. Tolstoj gehört hieher mit
seinen religiöse, künstlerische und moralische Probleme behandelnden Schriften
(z. B. „Gegen die moderne Kunst", „Die christliche Lehre", „Meine Beichte"),
ferner Carlyle, aus dessen Werken ein Auszug unter dem Titel „Arbeiten
und Nicht Verzweifeln" in deutscher Sprache erschienen ist. Emersons
und Ruskins auf Schönheit der Lebensführung abzielende Essays sollen auch
hier genannt werden. Auch Ellen K ey s Schriften, besonders „Das Jahrhundert
des Kindes", und Pauls ens gegen Klerikalismus und Naturalismus gerichtete
Streitschrift ^?lli1o8opllia militav8^, sowie ein Buch von Dühring „Der Wert
des Lebens" und ein Werk Carneris „Der moderne Mensch" mögen hier Er-
wähnung finden. Endlich gehört hieher Nietzsche mit der Hauptmasse seiner
Schriften, am tiefsten in das Verständnis seiner Grundgedanken sührt ein
der 15. Band der gesammelten Werke. Die subjektive, temperamentvolle Auf-
fassung, sowie der Mangel an Beweisen für die meist geiftreich und oft para-
dox auftretenden Behauptungen in den Werken Nietzsches find charakreristisch
für diese ganze Art von „Philosophie".

Tiefer dringen wir ein in das Wesen der ernsthaften philofophischen
Spekulation, wenn wir eine Lebensanschauung im Rahmen eines einheitlichen
geschlossenen Weltbildes suchen. Dabei gelangen wir ins Gebiet der Meta-
Physik. Ein Metaphysiker ist im Grund genommen jeder, der über das Ver-
hältnis von Natur und Geist ins Reine zu kommen fucht. Da gibt es einige
Denker, die glauben, eine befriedigende Antwort auf die Frage nach dem Ver-
hältnis von Natur und Geistesleben bereits gefunden zu haben, wenn fie in
phantafievollem Ausbau der naturwissenschaftlichen Deszendenzlehre das all-
mähliche Aufdämmern des Menschengeistes aus dem Naturgrunde schildern.
Zu diesen Denkern gehören vor allem Männer wie Bölsche (Hauptwerk:
„Die Eroberung des Menschen") und Häckel (besonders bekannt durch seine
„Welträtsel").

Andererseits gibt es auch heute noch Philosophen, die mit der umge-
kehrten Auffassung sich zufrieden geben, Nachkommen der grotzen Jdealisten,
die in der Natur ein Produkt des Geiftes fehen. Schopenhauer, der die
ganze Welt als Wille und Vorstellung aufgefatzt hat, besitzt einen Nachfolger
in Eduard von Hartmann (metapyysisches Hauptwerk: „Die Philosophie des
Unbewußten"). Fichtes kühne Gedankenbildung, wonach die Welt vom Geist
gestaltet wurde, damit in ihr die sittliche Persönlichkeit heranreifen könne, die
Grundidee von Fichtes immer noch lesenswertem Büchlein „Die Bestimmung
des Menschen" lebt fort in der Metaphysik Euckens (Schriften: „Die Einheit
des Geisteslebens" und „Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt").

Können wir die bisher genannten Metaphysiker, welche bald die Natur,
bald den Geist in den Vordergrund ftellen, einseitige nennen, so treten ihnen
andere zur Seite, welche Natur und Geift, Physisches und Psychisches mög-
lichst gleichmäßig zu berücksichtigen bestrebt find. Unter diesen find vor allem
zu nennen Wundt (metaphysisches Hauptwerk: „System der Philosophie"),
Fechner („Zend-Avesta") und Lotze („Metaphysik"). Auch Paulsens
„Einleitung in die Philosophie" dars hier Erwähnung finden. Uebrigens sei
ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die genannten „nicht-einseitigen" Meta-
physiker teilweise weit davon entfernt sind, einen Dualismus zu lehren. Es
gibt auch einen Monismus, welcher die Einseitigkeiten des Spiritualismus
und des Naturalismus vermeidet.

Wer nun mit Vermeidung von Einseitigkeit an die Bearbeitung der zwie-
spältigen Wirklichkeit herangcht, für den verlieren alsbald die Begriffe Natur
und Geist ihre dem naiven Meraphysiker über allen Zweiiel erhabene Bestimmt-
heit. Namentlich das Wesen der Natur, der Materie kritisch zu untersuchen,
wird damit zur Hauptaufgabe eines besonderen Zweiges der Metaphyiik, zur
Hauptaufgabe der Naturphilosophie. Diese Aufgabe fuchen mancheDenker

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