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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

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Heft 2 (2. Oktoberheft 1904)
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Avenarius, Ferdinand: Unsittliche Literatur: einige Gedanken zu dem Kongresse in Köln
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Schultze, K.: Hebbels Tragik
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0085

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und Art einer internationalen Organisation unter Mitwirkung der Re-
gierungen. Lauter gute Waffen im Kampf, aber bei allen fragt es
sich, welcher Geist die Hände lenken soll. Mög' es kein Geist der Enge
sein, sondern einer der Höhe und Weite! A

tzebbels O^ragik

Die Art, wie dem Menschen die „Dinge" „erscheinen", die Art,
wie er diese „Erscheinungen" deutet und auffaßt, nennen wir seine
Weltanschauung. Bei allen Aeußerungen eines Menschen wirkt diese
Weltanschauung mit, und je persönlicher etwas geäußert oder gedacht
wird, desto sremder ist uns zunächst diese Aeußerung oder Handlung.
Das Verständnis einer Persönlichkeit ist immer dadurch bedingt, wie-
weit wir mit ihr zu gehen vermögen, inwieweit es uns gelingt, uus
unserer Auffassung in die seine hinüberzuspringen und mit ihr mitzu-
denken.

Das geringe Verständnis, das im allgemeinen Hebbel entgegen-
gebracht wird, beruht hieraus, denn seine Weltanschauung ift eine tief
persönliche, beeinflußt zudem durch Hegel, mit dessen Gedankenwelt
man heute nur wenig zu tun haben mag.

Es kommt vielleicht hinzu, daß Hebbel den Begrifs der Schuld
im Schillerschen Sinne als einer Verschuldung, die „gesühnt" werden
muß, nicht kennt. Bei seinem Jndividualbewußtsein ist ihm das
„moralische Gesetz" als allgemein bindend fremd, und seine Dramen
beruhen auf einer ganz andern Tragik als der von Schuld und Sühne
im Sinne Schillers. Die Grundsätze seiner Weltanschauung zeigen ein
ganz anderes Tragisches, das zwar auch die Schuld zum Angelpunkt
macht, aber in ganz anderer Auffassung, und an Stelle der Sühne
des Jndividuums tritt eine Versöhnung der der ganzen Welt zugrunde
liegenden „sittlichen Jdee".

Wie jeder Dichter, bringt auch er natürlich jedes Geschehen unter
dem Gesichtswinkel seiner persönlichen Weltanschauung auf die Bühne,
und sie muß man verstehen, um den Lebensnerv der tragischen Hand-
lung bloßlegen zu können und die Aufgabe, die er sich als Dichter
stellt, zu erkennen. Versuchen wir im folgenden, ein Bild dieser
Hebbelschen Weltanschauung zu entwerfen.

Fur Hebbel also ist der Urgrund der Welt das Ein und Alles,
aus dem sie hervorgeht, der Angelpunkt des Universums/ die Jdee, und
zwar die sittliche Jdee, ist die Sittlichkeit selbst, nicht im landläufigen
Sinne der Moral, sondern Sittlichkeit in höchster Steigerung. Sie
ist ihm das Weltgesetz.

Die sittliche Jdee aber will sich verwirklichen und ams dieser Ver-
wirklichung beruht der Weltprozeß. Sie treibt „Erscheinungen" aus
sich hervor, eine Welt, in der die Jdee erscheint. Ohne die Jdee wären
die Erscheinungen nicht, sie sind nur durch sie und deshalb völlig von
ihr abhängig bis aus einen unbegreiflichen Punkt, die Freiheit. Ohne
die Freiheit wären die Erscheinungen keine selbständigen Jndividuen,
sie beruht aus dem Selbsterhaltungstriebe des Einzelnen, der uns
völlig unerklärlich ist, er ift von vornherein gesetzt mit dem Jndi-
viduum.

2. Oktoberheft 6Z
 
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