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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 12 (2. Märzheft 1905)
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Avenarius, Ferdinand: Der Dom
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0864

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Oer Dom

Als „das Hauptheiligtum der protestantischen Christenheit" be-
zeichnete vor mehr als sechzig Jahren schon Hallmann den geplanten
Berliner Dom, „ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung" nannte
er die erträumte Verwirklichung solchen Baus. Nun endlich steht das
Verlangen von Geschlechtern in Stein und Erz. Keiner, der an dem
Bau beteiligt war, hat ihn geringer aufgefaßt, das ganze Volk der
Protestanten wußte, was es galt, und an feiner Spitze bezeugten
das zwei Kaiser mit der Tat. Gelang das Werk? „Ja!" tönte es
ans den Weihereden, „ja!" aus tausend Begrüßungsworten. Jn einer
konfervativen Zeitung aber sprach ein unabhängiger Mann: „Schmäh-
licher, als in diefem Dome geschah, konnte der protestantischen Kirche
im germanischen Norden überhaupt nicht mitgespielt werden." Sind,
die ihm beistimmen, die schlechteren? Das ist doch wohl eine höchst
wichtige und tiesest ernste Frage. Nicht etwa für die kirchlich ge-
sinnten Kreise allein. Und weit auch über die Kreise der eigentlichen
Kunstsreunde hinaus. Hat sich der herrschende Zeitgeist selber im Ber-
liner Dome sein Denkmal gesetzt?

Am Schlusse des siebzehnten Jahrhunderts war ein prächtiger
Dom an dieser Stelle geplant worden. Einen bescheidenen hatte dann
Friedrich der Große erbaut. Den Siegern der Freiheitskriege ge-
nügte er nicht mehr, Schinkel wünschte an seine Stelle einen Kuppel-
bau. Friedrich Wilhelm IV. begann dann nach Stülers Entwürsen
eine Basilika mit jenem Kamposanto der Hohenzollern, sür den Cor-
nelius seine Kartons schus. Der Bau blieb stecken, und Jahrzehnte
lang mahnten an seiner Stelle junge Ruinen. Friedrich III., mit
Raschdorsf verbündet, ging neu ans Werk, Wilhelm II. ließ es voll-
enden. Nun steht an Stelle der Basilika der neue Kuppelbau mit
den Türmen.

Die protestantische Kirche durchschnittlichen Kunstvermögens kommt
dem Gesetze der Trägheit gemäß von den Formen immer noch nicht
los, die der katholische Gottesdienst sür seine Zwecke ausgebildet hat.
Da wird noch immer die Gemeinde im Schisf von den Geweihten
um die Heiligtümer im Chore getrennt, wennschon wir keine Reliqnieen
und keine Geweihten kennen, noch immer steht der Mittelgang leer,
den einst die Prozessionen brauchten, und noch immer die Kanzel
irgendwo beiseit, die als Verkündigungsstelle des Gottesworts der
protestantischen Gemeinde Mittelpunkt ist. Die Erkenntnis aber, wie
gedanken- und gesühlsarm, wie oberslächlich wir unsre Kirchen bauen,
ist schon Gemeingut aller sachkundigen Ernsten, und in England zumal,

2. rnürzheft 1905 80t
 
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