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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1904)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0469

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Geäickle von I)2ns Hopken

Vorbemerkung. Die folgenden „Christuslegenden" der
Selma Lagerlöf leiten ihre unter dem gleichen Titel bei Albert Lan-
gen in München erschienene Sammlung ein, „Die Vision des Kaisers" findet
sich anch in ihrem soeben im gleichen Verlage erschienenen Romane „Die
Wunder des Antichrist". Durch den Abdruck dieser Stücke sollen beidie
Bücher der im Kunstwart ja schon wiederholt gewürdigten Dichterin
noch in letzter Stunde zu dem Feste empfohlen sein, dem sie innerlhch
verbunden sind.

Mit dem Abdruck der Gedichte von Hans Hopfen nehmen
wir zugleich eine vorschnelle Aeußerung in vorigem Hefte in betatigter
Rene zurück. Auf der Reise, als mir unsre Gedicht-Sammelbücher nicht
znr Hand waren, schrieb ich, wir brauchten Gedichte Hans Hopfens
nicht abzudrucken, denn sie ständen ja in allen besseren Anthologieen.
^.mioi psooa-vi, sie stehen, wie ich mich jetzt überzeugen muß, durchaus
nicht in allen besseren. Die „Sendlinger Bauernschlacht" steht nicht
einmal im „Hausbuch", dies allerdings nur, weil sie als ein erzählendes
Gedicht dessen zweitem Bande vorbehalten bleibt. Mag sie heute unser
Weihnachtsheft ehren, ist doch auch sie ein wundersames Weihnachts-
gedicht. Jm nächsten Jahre ist ein Jahrhundert verflossen, seit der
Sendlinger Kirchhof diese Christnacht sah. — Hopfens Gedichte, die als
Sammlung zu lesen diese Proben sicherlich viele locken werden, sind
jetzt Verlag des Paetelschen „Allgemeinen Vereins sür deutsche Literatur"
in Berlin.

*

Lkristuslegencten von 8einia I^Lgerlöf

Die heilige Nacht

Als ich fünf Jahre alt war, hatte ich einen großen Kummer. Jch
weiß kaum, ob ich seitdem einen größeren gehabt habe.

Das war, als meine Großmutter starb. Bis dahin hatte sie jeden
Tag auf dem Ecksofa in ihrer Stube gesessen und Märchen erzählt.

Jch weiß es nicht anders, als daß Großmutter dasaß und erzählte,
vom Morgen bis zum Abend, und wir Kinder saßen still neben ihr und
hörten zu. Das war ein herrliches Leben. Es gab keine Kinder, denen
es so gut ging wie uns.

Jch erinnere mich nicht an sehr viel von meiner Großmutter. Jch
erinnere mich, daß sie schönes, kreideweißes Haar hatte, und daß sie sehr
gebückt ging, und daß sie immer dasaß und an einem Strumpfe strickte.

Dann erinnere ich mich auch, daß sie, wenn sie ein Märchen erzählt
hatte, ihre Hand auf meinen Kopf zu legen Pflegte, und dann sagte sie:
„Und das alles ist so wahr, wie daß ich dich sehe und du mich siehst."

Jch entsinne mich auch, daß sie schöne Lieder singen konnte, aber
das tat sie nicht alle Tage. Eines dieser Lieder handelte von einem
Ritter und einer Meerjungsrau, und es hatte den Kehrreim: „Es weht
so kalt, es weht so kalt, wohl über die weite See."

H26 Runstwart XVIII, 6
 
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