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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 9 (1. Februarheft 1905)
DOI Artikel:
Nissen, Benedikt Momme: Die mittlere Linie, [1]: zur heutigen deutschen Kunstlage
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0651

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Oie mittlere I^inie

keuligen äer»l8cken Rur>8llage

„Man streitet um des Kaisers Bart
und vergißt des Volkes Recht."

Gesunder Verstand meidet die Extreme. Wie alle, so ist auch die
Kunstpolitik praktisch auf Kompromisse angewiesen. Denkt sie klar,
so wird sie zu Gunsten des Genialen, nicht des Trivialen paktieren. Was
genial ist oder nicht, lernt man aus dem Volkstum, der Geschichte,
der Klassizität. Eine Rückkehr zu unserer deutschen Vergangenheit, in
der Kunst, ist zugleich ein Fortschritt in die Zukunft, sagt Thoma.
Doch gilt dies natürlich nur von dem Großen der Vergangenheit, nicht
von akademischen Rückständigkeiten oder vorbeihuschenden Modephasen.
Der echte Künstler empsängt seine Jndividualität vom Volk und schnlt
sie an den Klassikern. So bildeten sich ein Michelangelo, ein Rubens.
Was das Volk in trivialer Art begehrt, kann ihm der Künstler in
genialer Art geben. So entstand Homers Jlias, Goethes Faust,
Mozarts Don Juan.

Aber wie gelangt die Malerei heute zu einer
EntwickelunH großen Stils? Die Antwort lautet: indem
sie zwischen der jetzt üblichen Manetschwärmerei und der früher gang-
baren Dutzendmalerei die mittlere Linie einhält und von da aus sich
deutschem Geist, deutschem Charakter rückhaltlos zuwendet. Unschwer
findet man hiefür den geschichtlichen Anschluß. Die festgefügte Struk-
tur, der tiefgründige Geist, welche Dürer zum Zentral- und Mittelbau
deutschen Kunstlebens machen, welche noch vor fünfzig Jahren in
dem Wirken der Rethel und Hebbel lebendig waren, fehlen der gegen-
wärtigen Generation. Diese bedarf einer Kunst, die männlich durchgreist,
zugreist. Jede frei entfaltete Kultur beruht auf Genie, Originalität,
geistiger Quellkraft; sie schließt sowohl abgehetzte, wie abgestandene
Kunst aus. Sie braucht Jmpuls, Starkherzigkeit.

Jetzt wird um die echte Kunst gekämpft, wie einst von guten
nnd bösen Geistern um den Leichnam Mosis. Aber jedenfalls kann
Asthenie der Kunst nicht helfen. Diese ist und bleibt, in erster Linie,
eine Kraftsache. Jeder Künstler, der seine eigenen Wege geht, wird
Das theoretisch zugeben, praktisch befolgen. Die Ohnmacht hat die
Regel sür sich, die Kraft den Erfolg (Schiller).

feklrickiungen

Jn der neueren deutschen Kunst schlug der Pendel erst zu weit
rechts, dann zu weit links. Die sogenannte alte Richtung stellt sich
durchweg als eine Art geistiger Festgefahrenheit dar. Sie gleicht

st Februarheft sHOO 59?
 
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