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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

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Heft 9 (1. Februarheft 1905)
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Nissen, Benedikt Momme: Die mittlere Linie, [1]: zur heutigen deutschen Kunstlage
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0652

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einem ausgeblasenen Ei. Die moderne Nichtung erscheint, söweit sie
ungesund ist, als eine Art geistiger Entgleisnng. Sie verhält sich zur
wahren Kunst, wie ein ausgelaufenes Ei zum ausgebrüteten Ei. Man
vergleiche ein impressionistisches Herrenbildnis, aus Farbflecken mosaik-
artig zusammengesetzt, mit der geschlossenen Form- und Farbenwirkung
des Giorgionekopfes im Berliner Museum! Beiden jenen Strömnngen
fehlt die Jugendlichkeit, die Phantasie, die Psyche. Die alte Richtung
schleicht wie eine Schnecke, die nene rast wie ein Automobil. Die alte
will uns Leder für Leben verkaufen, die neue „peitscht den Quark,
daß er zur Crsme werde". Beide entbehren des künstlerischen Genies.
Weder Werner noch Manet hat solches. Sie sind üanänorülnA
msn, mit einer Methode. Beide wirken als Kanzlisten der Natur. Werner
hat Gewissenhaftigkeit, Manet gelegentlich Bravour; aber Schwung,
Jnspiration, Melodie des Schaffens gehen beiden gleichmäßig ab.

Ein Bild ist kein Fetzen Natur. (Paterson)

Befreier der neufranzösischen Kunst nach der Richtung des Ori-
ginalen, Genialen hin ist Courbet, nicht Manet. Die rechte gallische
Verve und Wärme, welche man von einem Reformator der französischen
Malerei erwarten darf und welche in der Literatur ein Rabelais und
Molisre haben, sehlt Manet. Er produziert durchweg auf kaltem Wege.
Dresdner sagt richtig von ihm: „er drückte den Menschen zu einem
Molekülhaufen herab". Dies tut Manet, wenn auch keineswegs in all
seinen Bildern, so doch durch sein endgültiges Malprinzip. Solches
Vorgehen ist selbstverständlich der Tod aller echten Kunst. Das fälsch-
liche Generalisieren eines an sich schätzbaren technischen Fortschritts,
der eingehenden Luft- und Lichtmalerei, hat viele Moderne vom ge-
raden Wege der Kunst abgelenkt. Diese Malerei verkauft ihr Erst-
geburtsrecht um ein Linsengericht: Manet setzt als Medium zwischen
Künstler und Gegenstand statt der Seele die — Luft. Seine Theorie
berücksichtigt zudem nur die atmosphärisch abgeslaute Farbe; von der
den Körpern primär innewohnenden Farbe, in ihrer ursprünglichen Fülle
und Leuchtkraft, sieht sie ab. Die Brüder Goncourt stellten fest: daß
mit Manet die psintnrs amdrso ot oristaliZoo ausgehört habe. Dieser
hat dadurch, dem koloristischen Prinzip nach, die Malerei erniedrigt,
nicht erhoben. Man proklamiert jetzt eine Kunstentwickelung „von
Phidias bis Manet"; warum nicht auch eine von Apelles bis Werner?
Die Methode, den Wert großer vergangener Meister danach zu be-
stimmen, ob und inwiefern sie Vorgänger Manets sind, ist so absurd,
wie wenn man die militärischen Leistungen Napoleons I. an denen
Garibaldi's meUen wollte. „Manet war kein sehr großer Maler,
er war nur ein unvollkommenes Talent", sagte selbst sein Jm-
presario Zola.

Als Charakteristiker steht Manet zurück hinter dem jetzt mit Un-
recht vergessenen Bastien - Lepage. Das Bisionäre, das menschen-
dildende Schauen, das Daumier und Millet haben, fehlt ihm. Es
ist erstaunlich, daß heutige deutsche Kunstrichter, wie Tschudi, über
Manets völligen Mangel an innerer künstlerischer Schöpferkraft nur
so beiläufig hinweggehen. Ueber den Anforderungen des Auges ver-
gessen sie die der Seele. Es bedars jedoch beider.



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