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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 1 (1. Oktoberheft 1904)
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Avenarius, Ferdinand: Wo stehen wir?
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Wolfsberg, V.: Litzmann über Goethe: in Sachen der Erziehung zum Kunstgenuß
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0023

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pflanzt haben, geht da und dort schon auf. Als erste grüne Ansiedel-
iputrkte! auf einem Felde von Sand > . .

Nein, üer Vergleich ist zu böse, und er stimmt auch nicht! Weiß
Gott, die Kultur von heute ift kein Sandacker! Wär das Aesthetische-
ein besonderes Feld darauf, man möchte eher an das andre Wort
denken: „Und ringsumher ist frische grüne Weide." Aber auch der
Vergleich hinkt ja, denn wo gab's eine Weide, deren Pslanzen hundert
Blätter, Blüten, Früchte auf der einen Seite tragen, während die
andre trocken i,st?

Erst wenn unser Volk wie heute die Sprache der Begriffe, so
einst die der Gesichte und Gefühle verstehen, erst wenn unser Volk
anch ihre Niederschläge in Kunstwerken und üsthetischen Erscheinungen
überhaupt „lesen" kann, erst dann wird aus unserer Zivilisation die
runde Kultur. Erst dann eine Ganzheit des immer weiter sich selbst
erhöhenden Menschenseins. Welchen politischen Meinens, welchen kirch-
lichen Glaubens oder Nichtglaubens, welchen Beruss und welchen Stan-
des wir seien, wir alle, die wir die Not erkannt, wir müssen uns
dran gewöhnen, vor jeder Erscheinung zu den anderen Fragen auch
die ästhetische zu stellen, die Frage: Scheint das auch, was es ist?
Das heißt, zeigt es sich auch nach außen hin so, wie es seinem
innern Wesen entsprechen würde? Wir werden's erreichen, wenn erst
uns allen aufgelöst im lebendigen Blut die Erkenntnis durch Herz und
Hirn pulst, daß ästhetische Bildung so wichtig wie intellektuelle ist, daß
sie jeder haben muß, will er ein Vollmensch sein. Ein Volk von Voll-
menschen ist Unser Ziel. Wie herrlich für uns alle, in der Arbeit dafür,
wie herrlich, selber in solchem Werden zu stehn! A

lAtLrnarm über' Goetke

In Sachen der Lrziehung zum Kunstgenuß

Stark geübte Organe Leibes und der Seele entwickeln sich,
wenig geübte verkümmern. Wie oft ist von der Anwendung dieses
alten Satzes auf die Erfcheinungen unsres Gebietes im Kunstwart
die Rede gewesen! Was sich vom Leben durch den Berstand erfassen
lüßt, das erfassen wir Heutigen leichter, was durch unsere äußeren
und inneren Sinne ersaßt werden will, schwerer als unsre Vorsahren,
denn unsre Erziehung hat den Verstand auf Kosten der Sinne und
der Phantasie entwickelt. Diese Tatsache wird kaum mehr bestritten,
ihre Gefahr wird erkannt. Kunst ist Erfassung von Lebensgesühlen
durch Sinne und Phantasie, wohl, wir erstreben wieder, daß auch
unsere Erziehung im Kunsterfassen und damit im Erfühlen von Leben
bilde. Wie kann sie das, als durch Uebung eben der Sinne und der
Phantasie? Aber immer wieder greift selbft bei den Bestwilligen der
Verstand als die geübtere, die stärkere Kraft unserer Seele irreführend
in die Arbeit: die Kugel unsrer geistig-sinnlichen Kräfte scheint auf
der Stelle des Verstandes gleichsam mit Blei ausgegossen — wie
viel wir sie bewegen, sie rollt immer wieder auf diese Seite zurück.
Jmmer wieder versuchen wjr's, auch das Kunstwerk durch den Ver-
stand erfassen zu lehren.



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Runstwart s8. Iahrg. Lstft l
 
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