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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1904)
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Wolfsberg, V.: Litzmann über Goethe: in Sachen der Erziehung zum Kunstgenuß
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0024

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Jn dem Aufsatze „Kunstgenuß und helfendes Wort" hat
Avenarius (Kw. XVI, s) ausgeführt, daß die beste Möglichkeit zu
solcher Hilfe ein „Wegräumen" von störenden Vorstellungen und
ein „Einstellen" auf diejenige Gruppe von Vorstellungen und Ge-
fühlen gibt, zwifchen der das Kunstwerk gleichsam sich bewegt.
Von dichtender gilt das wie von bildender Kunst. Die Um-
stünde, unter denen ein Gedicht entstanden ist, können höchst wichtig
sein für die Erkenntnis von Leben, Denken und Fühlen des Dich-
ters, und für die Erkenntnis vom Entstehen, überhaupt vom Wesen
der Dichtungen. Das hefßt: für biographisches und ästhetisches Ver-
stehen. Sie können uns also auch zu wissenschastlichem Genusse ver-
helfen. Aber zum „fühlenden Schauen" selber, zum Kunstgenuß selber
so wenig, wie alle Analyse des Weins dazu verhelfen kann, sich des
„Elfers im Glase" und des Duftes feiner Blume zu erfreuen.

Berth. Litzmann, der verdiente Bonner Profesfor, fchreibt
in feinem bei Fleischel in Berlin erschienenen „Versnch": „Goethes
Lyrik, Erlüuterungen nach künstlersfchen Gefichts-
punkten": „Wir find uns wohl alle darin einig, daß gerade in
diesem Punkte (eine Dichtung als Kunstwerk aufzufafsen) der heutige
deutfche Unterricht in den höheren Lehranstalten viel, wenn nicht alles
zn wünschen übrig läßt", daß „von esner Erziehung zu künstlerischem
Genuß nur in verschwindend feltenen Fällen die Rede ist". An feiner
Befähigung, zu zetgen, wie man befsern rönne, zweifelt er nicht. Jch
will, erklärt er, versuchen, „durch praktisches Beifpiel eine Anregung
zu geben und die Richtung anzudeuten, in der sich meiner Ueber-
zeugung nach alle Erläuterungsversuche bewegen müs-
sen, die auf eine Verfeinerung und Vertiefung unseres Kunstfinns
überhaupt abzielen". Seine Methode, „künstlerische Genußfähigkeit"
„anzuerziehen", hat er übrigens, so erfahren wir an andrer Stelle,
in zwanzigjähriger Lehrtätigkeit an der Universität Bonn durchgeprobt.

Das gibt dem Buche feine-Bedeutung. Es verspricht Hilfe, wo
Hilfe not tut. Es bietet fich zum Führer an allen denen, die fich
bestreben, in ein richtiges Verhältnis zur Lyrik überhaupt zu kommen.
Es zeigt, wie Jahr für Jahr von einem unserer bestwilligen und
einflußreichsten Hochschuldozenten auf das Verhältnis unfrer angehen-
den Oberlehrer zur lyrischen Dichtung eingewirkt wird. Und damit
zeigt es zugleich, wie aller Wahrscheinlichkeit nach diese nun weiter
auf ihre Schüler wirken, auf das werdende neue Gefchlecht von Ge-
bildeten. Aber fein Zeugnis ist unerfreulich. Wir werden die Mei-
nung zu begründen haben, die wir hiermit ausfprechen: Litzmanns
Buch beweist, daß ein mit vollem Recht anerkannter Literaturforscher
in Sachen der ästhetischen Erziehung Dilettant im übelsten Sinne
sein kann.

Litzmann will uns zu „Wanderers Sturmlied" führen, „Wen
du nicht verlässest, Genius", und wir lesen. „Und da wir nun ja in
den rund achtzig Jahren, die seit Goethes Tod verflossen sind, dank
einer oft in ihren Erscheinungsformen alles eher als erfreulichen Maul-
wurfstätigkeit emfigster Spezialforfchung glücklich fo weit gekommen
find, daß wir es fast besser sagen können als Goethe selbst, was und
wie er an bestimmten Tagen und zu bestimmten Zeiten empfunden

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