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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 1 (1. Oktoberheft 1904)
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Avenarius, Ferdinand: Wo stehen wir?
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0016

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Mo stsken 'wir?

Vonr neuen Jahrgang das erste Heft. Gute Zeit, sich wieder
umzusehen, wo man steht, und wie die Welt heute dreinschaut.

Schreiten wir zunächst durch die einzelnen Aecker des Schassens,
so finden wir aus dem der Literatur im letzten Jahrsünft nicht
viel verändert. Ein großes Genie, üie Welt zu bekehren, ist ja
vielleicht ausgezogen, aber zum Mindesten von einer umfänglicheren
Gemeinde noch nicht zu sehen. Besserungen sind in mancherlei Rich-
tung da. Der Respekt vor den Großen der Fremde hat nicht gelitten,
jener internationale Geist aber, der Absälle aus allen Winkeln der
Welt teils unverkocht teils in neugebackenen Pasteten uns guten
Deutschen aufzutischen liebte, findet nicht mehr so viele, denen's
schmeckt. Die „Heimatkunst" hat ihm Schaden getan, die ein Sich-
Besinnen aus die schlichte Tatsache bedeutet, daß jeder das Beste nur
dort gewinnen kann, wo er sich am besten auskennt. Sie ist auch
schon freier geworden, die Heimatkunst, sie begnügt sich mit der Um-
s'chau von der behaglichen Bank am Hause nicht mehr, noch mit der vom
Kirchturm, sie steigt schon auf Berge, wo der Blick zu den Horizonten
schweift — nur, daß der Boden fest unter den Füßen bleibe. Jm
übrigen kommt der Streit zwischen „Modernen" und „Nicht-Moder-
nen" Gott sei Dank auch unter den Rezensenten ab — alles ist ja
„modern", was wirklich lebt, und, nimmt mans anders, alles „nicht
modern", was sich auf längeres Leben einrichtet als den Tag. Natu-
ralismus, Realismus, Jdealismus, Neuromantik und was sonst noch
— es wird doch nachgerade als „rückständig" empfunden, wenn einer
dem andern aus der „Richtung" allein Vorzug oder Vorwurs macht.
Auch der Feuilletonismus, auch das „Geistreiche" wird nicht mehr
so geschätzt, wie ehedem, wo sich's um keiner Sache, wo sich's nur
um seiner selbst willen produziert, und wenn sich Narren finden,
denen's als etwas Feines erscheint, für „pervers" zu gelten, so be-
trachten wir sie eben als Narren. Das Wort „Frauenbücher" wird nicht
mehr wie früher nur mit Spott ausgesprochen, denn die Erzählungs-

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