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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1904)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0055

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G Künstlerische Jnspiration

Die künstlerische Jnspiration kann
sich am Alleräußerlichsten entzünden;
aber sie selbst, ihre Entzündung selbst
ist nötig, damit die verschiedenen
guten Dinge, die zusammenkommen
müssen, um ein Knnstwerk zu ergeben,
sich so innig verbinden können, daß
die neue Natur sich bildet.

Gewiß, man entsetzt sich, wenn
man zum ersten Mal von einem
tiefsinnigen Werk hört, die ganz be-
stimmte Farbentönung der einen be-
stimmten Stelle im Gemälde sei es
gewesen, was die Jdee des Bildes
hervorgebracht habe. Und doch wird
es im wesentlichen wahr gewesen
sein. Stoff und „Jdee" ruhen enge
zusammen im Kunstwerk, so enge,
daß man fast sagen kann: die Jdee
ist nichts andres als die Meisterung
des Stosfes. Allan Poe hat die
Entstehung seines berühmten Ge-
dichtes vom Raben daraus herge-
leitet, daß ihm der schwermütige
Klang des Wortes nsvsrmors, nim-
mermehr, keine Ruhe gelassen habe.
Poe soll damit irgendeinen zudring-
lichen Jnterviewer mystifiziert haben.
Jndessen wer sich einmal darauf ein-
gelassen hat, die Entstehung des künst-
lerischen Prozesses zu studieren, der
wird eher finden, daß ein wahrschein-
licherer Anlaß für das Gedicht gar
nicht denkbar ist. Dürers tiefsinnigste
Blätter sind zum Teil Gewandstudien
entwachsen. Und man weiß, wie der
Traum, der Meister, der Vater und
Herr aller großen Knnst aus den
winzigsten nnd zufälligsten Psychi-
schen Reizen im Auge, im Ohre oder
sonst im Körper seine grandiosen
Gemälde und Tragödieen schafft. Also
das ist zuzugeben. Jndessen der
schönste Funke verglüht, wenn er
nicht in Sprengstoff gerät. Der
Zauber des Wortes nsvsrmors hat

ein halbes Jahrtausend auf seine
Beschwörung warten müssen, und
Ritterrüstungen sind auch hunderte
von Jahren hindnrch gezeichnet wor-
den, ehe Dürers Tod und Teufel
aus einer von ihnen die Fnnken
schlugen.

Der Realismus hat vorübergehend
den Versuch gemacht, die Notwen-
digkeit der künstlerischen Jnspiration
überhaupt zu leugnen. Er hat das
Gute gehabt, große neue Stoffmassen
dem Künstler vor die Augen und
die Seele zu stellen. Und dabei hat
sich allmählich herausgestellt, was
seinen Forderungen mißverstanden
zugrunde lag, was auch den an-
deren Nichtungen zugrundelag, die
teilweise aus ihm hervorgingen, teil-
weise gegen ihn ankämpften und
doch als moderne Knnst mit ihm
zusammenstanden: der gemeinsame
Gegensatz gegen die akademische
Fremdkunst. So wunderbar es klingt,
diese neue Kunstbewegung begann
mit der Leugnung der Jnspiration,
um zu eigener Jnspiration zu kom-
men. Die verständigen Zuschauer
dieser Bewegung haben etwas Aehn-
liches immer gefühlt und die Humore
aller dieser wunderbaren Parolen
mit Verständnis und Freude genossen.
Wir jagten Japanern, Russen, Fran-
zosen nach, um deutsche Kunst zu
sinden, und wir leugneten die Jn-
spiration, um zur Jnspiration zu
kommen. Denn genau so wie das
Kanonisieren von Formen der reli-
giösen Jnspiration vergangener Zei-
ten die lebendige Jnspiration unter-
bindet, genau so ist es auf künst-
lerischem Gebiet. Die „ewigen Ge-
setze" Gottes oder der Natur oder
der Schönheit? Ach nein: das Ge-
setz der Trägheit ist hier wie überall
der eigentlichste Feind des Lebens.
Und das Leben selbst in all seiner

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