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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 7 (1. Januarheft 1905)
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Avenarius, Ferdinand: Winterreisen
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0512

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Mmterreisen

Nun ist's wieder auf den Straßen weiß oder grau, je nachdern,
aber jedenfalls nirgends mehr grün. Acht Tage früher, da ftanden die
Bäumchen noch da nnd dort richtig wie ein Schwarm von Schulkindern
zur Landpartie aufgereiht, fie, die landher eine Stadtpartie gemacht
hatten. Denn zu Weihnachten schickt ja der Wald feine Jugend zur
Stadt. Und bevor sie sich in die Häuser verteilt, um „in Schönheit
zu sterben", und auch in den Häusern selbst noch, in den Stuben und
-Stübchen, wo die Menschen noch keine Zivilisationsautomaten sind,
da hält sie eine Kinderpredigt. Verstanden hat sie noch jeder, der
Tannengrün und Fichtendnft versteht, denn schier der ganze Zauber
dieses allweihnachtlich wandernden Jungwaldes stammt ja aus ihr,
aber folgen tun ihr recht wenige. „Kommt hinaus in den Wald!",
slüstert's aus all den Zweigen, „da ist's schön".

Ja, der deutsche Wald ist auch im Winter schön. Still ist es darin,
aber still lebendig. Es knistert unter deinem Fuß von Reisig und
von all den gesrorenen Blättern, du mußt ganz vorsichtig auftreten,
willst du den Berghang hinunter das Wild im Tale belauschen. Hier
neben dem Busch ist deutlich zu sehen, wie der Boden aufgetaut war,
hier hat Hochwild, ein Hirsch oder eine Hirschkuh vor kurzem noch ge-
lagert. Drunten müssen sie über die Lichtung wechseln. Eine Ansschau-
stelle, nun warte. Die Zeit wird nicht lang, wieviel ist derweile zu
sehen! Am Boden ist alles weiß nmstickt. Die roten Toten, das grüne
Lebendige, das sich zwischen ihnen hinaufwagt, die gelben Halme
vom Vorjahr noch, der Efeu an den Stämmen, die Zweige der Büsche
sind alle mit feinen Kristallen besetzt, ein jeder anders, und, wo der
Edelstein taut, wird er zur Perle, und die Perle wird zum Diamanten...
Horch, da kommt er, der Hirsch! Jst das das nämliche Tier, das im
Zoologischen Garten so gelangweilt langweilte? Dieser von Schnauze
zu ,Schwanz ervegte Gesell, der jetzt so vorsichtig äugelt und sichert,
bei jedem Schritt bedacht, daß er nichts verrate, ganz und gar, so
scheint's, seiner Verantwortung als Gatte, Vater, Herr und Führer
bewußt! Und die Hirschkühe und die Kälber! Ach, da spüren sie uns!
Eins nach dem andern Satz auf Satz dort über den liegenden Stamm,
dann hinter dem niedrigen Damme dort, in einer Reihe trapp, krapp,
trapp, du siehst nur die Köpfe, davon in den Nebel, der kühl heranschleicht.
Es wird Abend. Geh heim, morgen wird der ganze Wald in Rauhreif
stehn.



p Ianuarhest

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