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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 7 (1. Januarheft 1905)
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Avenarius, Ferdinand: Winterreisen
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0513

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Ja, der Winternebel. Hast du den in den Bergen schon einmal
miterlebt? Das kennst du ja sicher, wie die Stadt drin aussieht, wenn
dir beim Ausgang der spaßende Nachbar rät, das große Brotmesser
mitzunehmen, daß du ihn besser zerschneiden kannst! Spaße du, Nach-
bar, was weißt du Stubenhocker davon? Ein paar Statiönlein Bahn,
dann ausgestiegen und jetzt bergauf. Jmmer noch nur das graue Nichts,
in dem da und dort etwas dnnkelt und wieder versinkt. Eine halbe
Stunde weit höher, so ist es ein weißes Nichts, und drohend schier
treten von rechts und links abenteuerliche Riesengestalten zu dir herau
und wieder zurück. Der Pfad wird steiler, sieh: ein weißer Mond zirkelt
sich droben ab. Nun achte wohl, denn Schritt für Schritt jetzt kann
das Herrliche geschehen. Es geschieht — aufjauchzen willst du, aber
der Jubel löst sich in Andacht. Ein wallendes Meer liegt unter dir,
brandend mit seinen gewaltigen Wogen gegen schneeige Ufergelände,
und in seinem Branden und Schäumen erstarrt. Was dir Sommers
so vertraut war, nun scheint es fremd wie von einem andern Stern.
Weiß umbrandet vom Urmeere ragen selige Jnseln goldumlichtet ins
Blau der Unendlichkeit. Verweile, dann wirst du sehn, wie mit der
steigenden Sonne in die trägen Massen ein Empören kommt, jetzt ver-
halten noch, dann in offnem Ausruhr, ein Sturm in seinen Wogen,
während sich doch kein Windlein regt, ein Bäumen und Zerreißen.
Und nun ein Zerflattern. Daß die Talgründe aufleuchten und wieder
übersponnen und überspült werden. Und nun bleiben. Bleiben, indes
in den äußersten Schluchten das Spukmeer mit seinen letzten Fetzen
zerrinnt. Aber in der nächsten Nacht kriecht es wieder aus allen dunkeln
Stellen auf und gespenstert sich zu Scharen und gießt sich aus den
Schwärmen wieder zur Masse zusammen. Kommst du früh herauf,
wenn der abnehmende Mond noch glänzt, und siehst du den in Ein-
samkeit kalt herrschen über dem grauen weiten, weiten Tod, du ver-
gissest es uie.

Das Wasser ist des Winters Kaiser. Das Wasser in allen seinen
Formen. Das Wasser von dem Dunste ab, den du als solchen nicht
erkennst, der dir nur Sommers uugesehene Fernen Winters in blauem
Dufte heranträgt, vom Dunste über den Nebel zum Reif, über den
Regeu zum geschwollenen Strom, über den mit hunderterlei Kristallen
von mikroskopischer Zierlichkeit stickenden und schmückenden und mit
Hauben und Mänteln kinderlustig mummenden Schnee zum Fluß auf
Fluß und Bucht auf Bucht tyrannenhart bezwingenden Eise, das meilen-
weit durch die Nächte donnert, wenn es im Froste springt. Willst
du aber sein Reich unbeschränkt sehen, so geh Wiuters ans Meer.

Nicht weil du dort einen der Winterstürme erleben könntest, deren
Erhabenheit zu dem Größten gehört, was unser Planet überhaupt
mit zu erleben hat. Jch will nur vom ruhigen Meere sprechen. Der
Strand, der zur Sommerzeit „Promenade" ist, jetzt ist er Vorhof
der See und weiter nichts, ein breiter, wellig fester Vorhos, auf dem
leise die langen Wogen hinauflaufen, um abzulegen, was sie nicht
mehr wollen. Nichts beherrscht ihn nach rechts und links ins Unend-
liche hin, als das Meer. Das selber ist leer von Schiffen, aber cinsam
ist es nie. Wenn du in den blaugrauen Duft darüber blickst, wie seltsam,
so blitzt es plötzlich wie ein Silbernebel am Himmel hin und crlischt



Uunstwart XVIII, 7
 
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