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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 7 (1. Januarheft 1905)
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Avenarius, Ferdinand: Winterreisen
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0514

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wieder und blitzt wieder auf. Jetzt begreifst du erst, woher das kommt:
ferne Seeschwalbenflüge sind's — wenn sie sich wenden, daß die Sonne
das Weiß der Gefieder trifft, dann jedesmal erglänzt am Himmel der
Schimmer. Und welch Vogelleben überhaupt. Vom Norden find die
Wintergäste gekommen, in nnzähligen Scharen, in all den verschiedenen
Arten die Enten und Gänse und sonstiges Flügelgetier. Dicht am
Ufer kannst du die Enten sehn, die unermüdlich muntern Gesellen, die
schnattern, tauchen, sich zanken nnd spielen, wie hier zur Hochsaison
nur die lustigsten Menschlein, während würdevoll ein Höckerschwan
als Goliath zwischen dem Kleinzeuge rudert. Heut ist ja hier in der
Bucht das Wasser noch eisfrei, nur die Steinblöcke, die vor Uralters
auf Gletschern und Eisbergen dahergereisten, haben sich gewaltige weiße
Kapuzen aufgesetzt. Freilich, schon knistert es zwischen ihnen, und immer
mehr ummanteln und umpanzern, umstacheln und umzapfen sie sich.
Wohl morgen schon ist die Fläche ein Stück hinaus schon von Scholle
an Scholle bedeckt, und träge nur hebt sie sich, wenn die Wogen unter
der dünnen Schilderschicht verlangsamt herankriechen. Uebermorgen aber
ist alles vielleicht schon starr, eine seste Eisebene meilenweit hinaus,
dann bleibt nur am Horizonte vom Brandungsgischt ein Streif von
Silber und, steht die Sonne darüber, von Gold. Dahin zieht auch all
das Vogelvolk hinaus. Aus weiter Ferne hörst du dann nachts ein
Bellen wie Rüdengeläut, oder ein Geräusch zum Täuschen genau, als
lärme üort draußen eine Großstadt. Das kommt von den Tausenden und
Abertausenden von Wildgänsen des Nordlands. Plötzlich erhebt es sich
und naht und verstärkt sich und wächst und braust über dir durchs Dunkel,
und nun ist es ganz, ganz wie ein wildes Heer . . .

Was sollen solche Winterbilder an dieser Stelle?

Jch möchte an sie die Frage schließen: wie viele unter den Groß-
städtern kennen das? Jch meine: nicht aus Beschreibungen, nein, aus
eignem Augenschein? Es sind ja nur ein Paar Bilder aus der Hei-
mat, die ich entworfen habe. Und nicht etwa von ganz besonderen,
von ganz seltenen Ausnahmeerscheinungen, ich habe nur von solchen
geredet, die fast jede Winterwoche bieten mag. Wie viele unter uns
Großstädtern, die nicht etwa Jäger oder Wintersportsleute sind, kennen
ihre Heimat auch bei Frost und Schnee? Wir haben wiederholt davon
gesprochen, wie wenig die Großstädter auch zur „Reisezeit" in Sommer-
srischen und Badeorten von der Natur unsres Vaterlandes und damit
von der großen Mutter und unsern Brüdern überhaupt kennen lernen.
Das gilt für die Sommerwelt. Und wer sie gut kennt und kennt n u r
sie — kennt selbst der von seiner Heimat mehr als die Hälfte?

Den Ruf nach Rückkehr zur Natur, wie ihn Rousseau erhob, hat
die Menschheit heute aufgegeben. Wir sind uns bewußt, daß sein Ver-
langen in solchem Umsange nicht mehr, sagen die Einen, noch auf Jahr-
hunderte nicht, sagen die Andern, erfüllt werden kann. Nicht m der
Zivilisation an sich sehen wir ein Unglück, sondern in der unverarbeiteten
Zivilisation. Jn dem von Menschen Gemachten, das noch nicht Dienerin,
sondern das noch Beherrscherin der Natur in uns ist, und so itatt zur
Kultur zur Unkultur sührt. Zivilisation ist kein Unglück, sie kann ein
herrlicher Segen sein, aber sie ist immer für unser Bestes eine Gefahr,
wenn auch eine notwendige Gefahr. Denn nur dann bleiben oder werden

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