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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 5 (1. Dezemberheft 1904)
DOI Artikel:
Muthesius, Hermann: Amerika
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0385

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Imerika

Amerika ist in den letzten zehn Jahren in den Mittelpunkt des
europäischen Jnteresses getreten, es ist eines der wichtigsten, wenn
nicht das wichtigste weltwirtschastliche Problem geworden. So sehr es
auf der Hand liegen mußte, daß ein Land von diesen unerschöpflichen
Hilfsquellen, von dieser enormen Größe, von dieser gesegneten Frucht-
barkeit eines Tages seine maßgebende Rolle auf unserm Erdball über-
nehmen würde, so sehr hat man sich in dem alten Kulturland Europa
Amerika gegenüber in Ruhe und Sicherheit gewiegt, bis das Problem
eines Tages riesengroß vor aller Augen dastand. Die amerikanischen
„unbeschränkten Möglichkeiten" sind nun heute in aller Munde. Man
ahnt jetzt, was Amerika ist und werden kann. Und wohl vorwiegend
aus diesem Grunde eilten im letzten Sommer Tausende aus Europa
hinüber, um mit der Weltausstellung in St. Louis auch zugleich
Amerika kennen zu lernen, und dieses merkwürdige Land, von dem
man noch keine rechte Vorstellung hatte, auf sich wirken zu lassen.

Die Gegenwirkung, die Amerika auf den kontinentalen Besucher
ausübt, ist nun zunächst nicht sehr wohlgefällig. Es ist recht un-
bequem dort zu reisen. Niemand kümmert sich um einen, man
muß sich mitunter sogar die Stiefel selbst putzen; das ganze Ansehen,
das der der „Gesellschast" angehörende Europäer hier genießt, sinkt
drüben vor dem ersten Straßenbahnschaffner in ein Nichts zusammen.
Es ist dort alles scheußlich demokratisch; ein Mensch gilt so viel
wie der andre. Wer „feudal" angelegt ist, wird in seinem Selbst-
bewußtsein auf Schritt und Tritt gepufft, gerupft, beleidigt. Die
Empörung steigt ihm in die Stirnadern; er hat von diesem Lande
bald genug.

Die Art, wie sich Amerika in manchen deutschen Zeitungsberichten
spiegelt, ist vielleicht nicht unwesentlich von solchen persönlichen Emp-
findungen beeinflußt. Und auch aus den Berichten über die Welt-
ausstellung in St. Louis kann man häufig den gepufften und ge-
kniffenen, aus seiner europäischen Kulturwolle herausgerissenen Euro-
päer durchschimmern sehen. Es kommt dazu, daß man mit absprechen-
den Urteilen bei seinen Mitmenschen immer bedeutend mehr Glück
hat, als mit anerkennenden. Es ist für den Leser so sehr viel be-
quemer, versichert zu werden, daß es in Amerika einsach gräßlich sei,
als aus anerkennenden Schilderungen den Schluß ziehen zu müssen,
daß wir in Europa uns vielleicht zusammennehmen müssen, um in
der einen oder andern Beziehung nicht zurückzubleiben.

p Dezemberheft 34:5
 
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