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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 5 (1. Dezemberheft 1904)
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Muthesius, Hermann: Amerika
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0386

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Und dann kommt noch etwas anderes dazu, was in vielen Fällen
das Urteil im ungünstigen Sinne beeinflußt, die heute auf dem Konti-
nent umgehende Abneigung gegen das Angelfachsentum. Denn es ist
ja eine Tatsache, daß man angelsächsisches Kulturland betritt, wenn
man in New-Aork seinen Fuß ans Land setzt. Wer vorher schon
England kannte, könnte glauben, daß er wieder in England sei. Alles ist
englisch, das Straßenbild, die Art wie sich Mensch zu Mensch stellt,
die Art des Wohnens, des Geschäfts, des Verkehrs, die Welt- und
Lebensanschauung. Das ist eine der merkwürdigen Beobachtungen, die
man dort macht. Wo ist der Kultureinsluß der Millionen Deutscher
lgeblieben, die hier eingewandert sind? Er ist versunken im Angel-
sachsentum, spurlos. Wie oft sind hierüber in Deutschland moralische
Betrachtungen angestellt und den Deutschen moralische Standreden
gehalten worden. Es hat nichts genntzt. Man tut überhaupt vielleicht
besser, die Erscheinung rein naturgeschichtlich zu betrachten. Man
wird dann eher auf verwendbare Schlüsse kommen und sich ein Bild
von den wahren Ursachen dieser Erscheinung formen können. Wie dem
auch sei, Amerika hat angelsächsische Kultur, und wer sie nicht mag,
mag auch Amerika nicht.

Amerika ist ein Jung-England. Der nlte Herr John Bull auf den
britischen Jnseln ist bequem und behäbig geworden und will von nicht
viel Neuem mehr wissen. Um so unternehmender ist der junge Herr
auf dem großen amerikanischen Festlande. Er ist jung in des Wortes
allseitigster Bedeutung: lebhast, lustig, neuerungssüchtig; er macht
gern etwas aus sich, ja neigt entschieden zur Renommisterei; er fischt
nach Komplimenten; er hat eine gehörige Portion Selbstüberschätzung,
und mit Goethes Schüler ist er der Meinung: „Die Welt sie war nicht,
eh ich sie erschus." Aber daneben fehlen nicht die guten Seiten der Jugend.
Welcher Lebensmut, welcher Unternehmungsgeist, welche Frische, welche
Kühnheit! Diese Kühnheit ist es, die man drüben auf Schritt und
Tritt zu bewundern hat, das Größenmaß in den Unternehmungen, der
Maßstab des projektierenden Denkens überhaupt! Als zögen die Größe
der Natur und die Weite des Landes seine Folgen im Unter-
nehmungsgeiste der Menschen, die es bewohnen.

Die Jugend Amerikas ist es, die auf die verschiedenen Amerika-
reisenden so verschiedenartig einwirkt, aus den einen anregend, ja
begeisternd, aus den andern abstoßend. So viel steht fest: wer mit
dem Notizbuch in der Hand nach Amerika geht, um sich Mangel-
haftes zu notieren, der findet davon eine solche Menge, daß er ganze
Bände süllen kann. Er kann, wenn er will, mit einer völligen Ver-
achtung Amerikas zurückkehren und sich für sein übriges Leben in
dem erhebenden Bewußtsein der europäischen Ueberlegenheit wiegen.
Es kommt noch hinzu, daß die anregenden Seiten, die das Land und
seine junge Kultur bietet, vielfach nur in Keimen vorhanden sind.
Es sind mehr Hoffnungen als Ergebnisse, die man in dieser Beziehung
auf sich wirken lassen muß. Und doch finden sich Anfänge und An-
sätze zu Großem, zu Neuem, zu einer veränderten Welt- und Lebens-
ausfassung. Alles wogt auf und nieder. Aus saftigem Acker schießen
Unkraut und Edelpflanzen nebeneinander empor. Niemand spielt den
Gärtner, niemand ordnet, sichtet, nivelliert. Dazu hat man noch keine



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Runstwart XVIII, 5
 
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