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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 5 (1. Dezemberheft 1904)
DOI Artikel:
Muthesius, Hermann: Amerika
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0387

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Zeit, man ist noch nicht so weit. Europa sieht sich von drüben an
wie ein höchst abgeklärtes wohlbehäbiges altes, fast veraltetes
Kulturland, in dem etwas vertrocknete, spießbürgerliche, tantenhast-
ängstliche Menschen wohnen. Jn Amerika hat jeder alle Hände voll
zu tun. Es ist so unendlich viel Arbeit zu verrichten, daß noch ganze
Völker zuwandern können, um mit Hand anzulegen. Jeder ist voller
Optimismus, Unternehmungslust und Lebensfreude. Und jeder findet
Betätigung für seine Geistesgaben. Es ist nicht wie bei uns, wo
in Treibhauskultur so viel Jntelligenz überproduziert wird, daß wir
die ganze Welt damit versorgen könnten (was wir aber nicht tun, weil
jeder hinter dem Ofen sitzen bleiben möchte und sich tatsächlich auch
nnt dem geringsten Unterhalt begnügt, um ja nur sitzen bleiben zu
können), sondcrn jede versügbare Jntelligenz findet ihr Betätigungs-
feld im weitesten Umfange. Die wirtschastlichen Verhältnisse setzen
keiner Fähigkeit Schranken. Es gibt keine Veranlagung, die nicht
zur Entfaltung gelangen könnte, und die Entwicklung des Willens
ist der des Verstandes gleichwertig, ja überbietet die des Verstandes
sogar häufig bedeutend. Jeder Amerikaner ist in allererster Linie
Willensmensch.

*

Eines der bezeichnendsten Beispiele für die amerikanische Willens-
krast und den daraus erstehenden großen Maßstab des Unternehmens
ist gerade die Weltausstellung in St. Louis. Die Ausstellung war,
was einem überall entgegengerufen und in Wort und Schrist unzählige-
male wiederholt wird, doppclt so groß wie die in Chicago und bei-
nahe viermal so groß als die letzte in Paris. Nun denke man sich eine
Stadt von wenig mehr als einer halben Million Einwohner, die ein >
solches Projekt durchführt; eine neue, unfertige Stadt dazu, sern von
dem amerikanischen Hauptverkehr, ohne natürliche Reize, ohne An-
ziehungskraft sür den Fremden. Manche von uns wußten nicht einmal
etwas von dem Dasein dieses Städtchens, bevor sein Ausstellungs-
projekt austauchte!

Und St. Louis hat seinen Plan durchgeführt. Durchgeführt unter
unendlichen Schwierigkeiten und angesichts unüberwindlich erscheinen-
der Hindernisse. Und gut durchgeführt. Die Ausstellung als solche war
ein Wunderwerk in ihrer Größe und imponierenden Wucht des Eiu-
druckes. Sie war geschlossener und in der Gesamtdisposition einheit-
licher als die letzte Pariser Ausstellung. Ja man kann sogar sagen,
daß die Architektur der Ausstellungshallen besser war. Jedensalls war
sie weniger bizarr und im gewissen Sinne einfacher und würdiger
als die Pariser. Jn beiden Fällen waren freilich die Ausstellungs-
Hallen als Königspaläste und antike Thermen und Basiliken sri-
siert, geradeso wie das auch in Chicago der Fall war. Nimmt man
aber diesen Jrrtum als einmal vorhanden hin, so war die Hand-
habung dieser antiken Architektur sehr gut, viel besser, als wie ein
Europäer im Jnnern Amerikas vermuten würde.

Jedensalls war die szenische Anordnung der Ausstellungsbauten
höchst wirkungsvoll. Eine natürliche Bodenerhebung war benutzt, um
daraus den Mittelpunkt der ganzen Anlage, eine kuppelgekrönte Fest-
halle zu setzen („die größte Kuppel auf der Erde", hieß es in allen



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