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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1904)
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Wolfsberg, V.: Litzmann über Goethe: in Sachen der Erziehung zum Kunstgenuß
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0025

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u.nd gedacht, da wir durch die erdrückende Fülle des tatsächlich bio-
graphischen Materials und durch die Erschließung Goethischen Wesens,
die seine Briese uns gegeben haben, ihm bis zu einem früher kaum
sür möglich gehaltenen Grade nahe gerückt sind..." Jst Litzmann nicht
bewußt geworden, daß er mit diesen Worten an Wagner, den Famulus,
erinnert? „O ja", die Goethephilologie hat es „bis an die Sterne
weit" gebracht, „die Zeiten der Vergangenheit" sind ihr kein „Buch
mit sieben Siegeln". Aber wie kann sie mir helsen, mit meinem Ge-
fühl „dem Regengewölk, dem Schlossensturm" „entgegenzusingen", „wie
die Lerche, du da droben"? Wie kann sie mir „Wanderers Sturm-
lied" genießen helfen? Und Litzmann erklärt doch, er wolle zum
Kunstgenusse führen.

Wie Litzmann sich's denkt, das zeigt er Vielleicht am besten,
wo er die „Zueignung" bespricht. Durch 27 Seiten wird ihr Text
„erläutert". Andre Goethesche Gedichte, Biographisches über die Frau
von Stein, Stellen aus Goethes Briefen an Sie, alles das wird
herangezogen. „Wer ist die Erscheinung?" wird gesragt. „Dich nenn
ich nicht!" sagt Goethe im Anfang. Das war wohl nicht recht von
ihm, nach Litzmann müssen wir zum Kunstgenusse wissen, wer die
Erscheinung ist. Auf fünf Seiten Prüft er zunächst, ob es die Poesie
ist, auf üer sechsten Seite ob die Wahrheit, nach weiteren fünf Seiten
kommt er zu dem Schlusse, daß es die Frau von Stein ist, die dem
Dichter hier als „Jnbegriss der Poesie", als die „Verkörperung der
Wahrheit selbst" erscheint. Nun läßt zwar schon die herrliche Rede der
Gestalt nicht die kleinste Unklarheit über das, was sie dem „Glücklichen"
gibt, „der dies Geschenk mit stiller Seele nimmt", aber wie können wir
genießen „aus Morgendust gewebt und Sonnenklarheit-der Dichtung
Schleier aus der Hand der Wahrheit" — wenn wir nicht durch Litz-
mann ersühren, daß eigentlich Frau von Stein dahinter steckt!

Ein Satz mag den Geist der „Erläuterungen" zu diesem und
damit zu den andern Gedichten kennzeichnen. „Wir müssen also von
vornherein diese Doppelbeziehung und Doppelbedeutung im Auge be-
halten, festhalten, daß Allegorisches und individuell Persönliches ver-
mischt ist, und daß infolgedessen nicht nur beabsichtigte und unbeab-
sichtigte Unklarheiten sich sinden an Stellen, wo die Grenzlinien des
Allegorischen und Persönlichen ineinander übergehen, sondern daß auch
daraus, daß zweierlei Tendenzen zum Ausdruck gebracht werden sollen
— ästhetische und ethische —, die sich nicht immer decken, geradezn
Widersprüche innerhalb der Dichtung entstehen." Mit solchen Gedanken
und Sätzen also will man „künstlerische Genußsähigkeit" „anerziehen".
Jst das „sesthalten", „im Auge behalten", das achten aus ästhetische
und ethische „Tendenzen" eine verstandesmäßige oder, wie das der
Kunstgenuß erfordert, eine fühlende und schauende Tütigkeit?

Das Gedicht „An den Mond" wird ebenso behandelt. Goethe
könne das „einen Freund am Busen hält" nicht aus die Freund-
schaft zwischen Mann und Mann bezogen haben, da er vor der Be-
kanntschast mit Schiller nie die Freundschast so ties empsunden und
gar höher als die Liebe gehalten habe — ein Goethephilolog muß
das ja wissen. Also sind die Worte und damit das ganze Gedicht
der Frau von Stein in den Mund gelegt. Die Freundin spricht, und



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