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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 1 (1. Oktoberheft 1904)
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Wolfsberg, V.: Litzmann über Goethe: in Sachen der Erziehung zum Kunstgenuß
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0026

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der „Freund" ist Goethe. Weiß man das nicht, kann man's eben
nicht recht genießen. Früher zwar hat man's nicht gewußt, und doch
hat „An den Mond" stets für eines der herrlichsten Goetheschen Ge-
dichte gegolten. Man hat sich wahrscheinlich nur eingebildet, es zu
genießen, keinesfalls hatte man, sozusagen, die Erlaubnis der Wissen-
schaft dazu.

Die biographische Kenntnis macht sich weiter nützlich. Am 8. De-
zember stieg Goethe auf seiner Harzreise in die Clausthaler Gruben.
Dort sah er Erzadern. Das Gedicht Harzreise schließt: „Und (du,
der Brocken) schaust aus Wolken Auf shre Reiche und Herrlichkeit,
Die du aus den Adern deiner Brüder Neben dir wässerst." „Die
Metalladern der umliegenden Berge sind gemeint, aus denen der
belebende Strom rinnt über die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit"
— erläutert Litzmann.

Erstaunlich ist überhaupt, welcherlei Urteile wir manchmal bei Litz-
mann treffen. Zu der Strophe:

„Und wie ich stieg, zog von dem Flnß der lViesen
Lin Nebel sich in Streifen sacht empor.

Lr wich und wechselte mich zn nmfließen,

Und wuchs geslügelt mir ums chanxt empor"

sagt er: „Hier dienen die Beiworte nur zur möglichst deutlichen Ver-
anfchaulichung; wir sollen nicht mit ihm sühlen, nur mit ihm
sehen." Wie stellt sich Litzmann den Dichter vor, der wünscht, daß
seine Leser nur stellenweise mit ihm fühlen sollen, und wie denkt
er sich den Kunstgenuß bei Ausschaltung des Gesühls?

Ein anderes Beispiel zu der „Harzreise": „Aber abseits, wer
ist's?" „»Das Bild des Einsamen kommt ihm wieder in den Sinn, er
malt sich's aus«, heißt es in Goethes Erläuterung. Jch möchte hier
wagen, dem Dichter bescheiden zu widersprechen. Aus seiner eigenen
Dichtung heraus, . . . möchte ich doch vermuten, daß dieses Bild,
das er sich »ausmalt«, ebenso gesehen ist, auf Beobachtung beruht,
wie der Geier." Also kann sich nach Litzmann der Dichter nicht etwas
ausmalen, was er gesehen und beobachtet hat.

Halten wir uns nicht länger bei Mißverständnissen und Versehen
im Einzelnen aus, wie sie neben dem prinzipiellen Jrrtum sreilich
auch die besondere Befähigung Litzmanns zum „Kunsterzieher" be-
leuchten, sragen wir endlich ganz allgemein: tut man gut, für die
Uebung im 'Kunstgenuß überhaupt das Biographische heranzu-
ziehen? Noch einmal: Hieße das Ziel: Goethe den Menschen nnd
Künstler kennen zu lernen, gewiß, dann brauchten wir das. Hieß'
es: über das Wesen der Kunstwerke und des künstlerischen Schaffens
Erkenntnisse zu gewinnen, sicher, dann brauchten wir's auch. Litz-
mann aber betont immer wieder, daß er zum Kunstgennsse er-
ziehen will, ja, daß man seiner Meinung nach nur auf solchem Wege
zum Kunstgenuß sühren könne. Und da liegt der schwere und bei
Litzmanns Ansehen gefährliche Jrrtum, vor dessen weiterer Ausbrei-
tung und weiterem Ausbau wir im Jnteresse unserer ganzen Bewe-
gung warnen müssen.


s. Vkteberhest

tt
 
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