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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 1 (1. Oktoberheft 1904)
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Wolfsberg, V.: Litzmann über Goethe: in Sachen der Erziehung zum Kunstgenuß
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0027

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Der Genießende findet nicht den Dichter, sondern findet im Ge-
dichte sich.

Das Perfönliche, Zusallige, Besondere bleibt wie Schlacken zu-
rück, wenn sich das Allgemein-Menschliche, das Typische, glühend ge-
schmolzen, in die Form eines Kunstwerks gießt. Es spricht nicht mehr
Goethe, cks spricht der groß sühlend-e Mensch überhaupt. Sag ich
dem Werdenden: Goethes Lied an den Mond spricht aus, wie Goethe
fühlte, daß Frau von Stein die Mondnacht empfinden müsse, so lenk
ich die Seele dessen, der genießen will, nicht hin zum Gedichte,
sondern weg von ihm. Eher dürste ich ihm sagen: „So klingt tiefe
Menschenseele, die entschwundenem Glücke nachtrauert, in der Mond-
nacht — verloren hat schon jeder von uns, wird nicht auch dir, als
ob dein eignes dunkles Empsinden wach würde und Stimme gewänne?"
Und bei Ganymed: „Auch dein Frühlingsempfinden ist hier, das
eben noch seltsam im Herzen drinnen das unflügge Leben regte, hier
wird es besreit, daß es mit mächtigen Schwingen auswärts rauscht."
Aber auch mit solchen Worten ist zum Erregen des Kunstgenusses erst
dann etwas getan, wenn uns gelingt, den Hörer in die Stim-
mung zu bringen, die ihn sür die Dichtung empfänglich macht.
Dann kann er genießen, und durch das Genießen sich nühren mit
dem, was eine größere Persönlichkeit ihm gibt. Nicht das gilt es
da: ein dressiertes Denken wachsam zu machen, um Beziehungen zum
Leben Goethes zu sinden und zu verstehen, nicht auspassen zu lehren
gilt es, wie ein Jagdhund, um Kombinationen zu spüren. Du, Wer-
dender, sollst das Gedicht als deine, als Menschensprache sich aus-
tönen hören, sollst ihm und dir selber lauschen und den Verfasser
und alle Wissenschaft über ihn vergessen bei dem, wohin der Große
dich führt und was er dich mit seiner Seele mit eintrinken läßt
aus der Natur, aus dem Leben.

Aber die „schwierigen" Gedichte in unseren höheren Schulen?
Jm Gedicht ist ju ost die Ersahrung eines reifen Mannes ausge-
sprochen, wie kann sie der Jüngling nachfühlen, der in den Genuß
von Dichtung eingesührt werden soll?

Wir stellen die Gegensrage: muß man denn versuchen, ihm Ge-
dichte nahezubringen, sür die er noch ganz und gar unreif ist? „Ganz
und gar" — es hat nämlich hier, scheint uns, eine Einschränkung
Platz, denn mit Gefühlen ist es ein eigen Ding, sie keimen sehr lange
bevor sie blühen. Jn vielen Fällen genügt es, dem Werdenden eine
Ahnung vom wirklichen Gehalte mitzugeben, ihm gleichsam die Nich-
tung zu weisen, in der sein reisendes Jch nach dem Schatze dann
weiter zu graben hat. Das ist übertragbar, Lebenserfahrungen sind
es nicht. Aber in der Richtung nach dem Schatze hin muß alles
zeigen, das Schauen, das Fühlen muß erregt werden, wo allein durch
Schauen und Fühlen der Weg geht. Verstandesmäßige Mitteilungen,
Kenntnisse, Reflexionen lassen höchstens den Hans verlernen, was etwa
das Hänschen an Fähigkeit zum Kunstgenusse mit Sinnenfreudigkeit
und Phantasiebeweglichkeit als Muttergabe noch besaß.

V. v. wolssberg



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