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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 1 (1. Oktoberheft 1904)
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Avenarius, Ferdinand: Wo stehen wir?
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0022

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heitslinien willen verkrümmt und nicht mit Ornamenten tätowiert,
sondern sie so, wie Stoff und Zweck wollen, im Glanz ihrer stählernen
Sehnen dehnt. Nur die Parvenu- und die Snob-Moderne bekämpfen
wir, die sachlich ernste ist gegen Hohlheit und Sentimentalitüt unsre
beste Bundesgenossin. „Es sei zweckmäßig!", das ist ja auch uns für
alles, was da gebildet wird, das erste, und so einigen wir uns schnell
mit den Modernsten, wo man anerkennt: Das Erhalten und Erwecken
von Lebensfreude und das Weiterentwickeln der Menschheit in allen
ihren Seelenkräften sind denn doch auch große Zwecke. Aber nicht nur
für Hausrat, Haus und Straße gilt das, sondern für alles Aesthetische,
für alles also, was Seele durch die Sinne bringt. Tonkunst, Theater,
Literatur, das sind hohe Namen — wir müssen aber auch auf das
achten, was unter ihnen liegt, woraus sie hervorwachsen. Werden
die einsachsten ästhetischen Bedürfnisse so befriedigt, daß sie als
Grundboden gesund sind? Was liest, was singt man, wie vergnügt
man sich? — Gott behüt' uns vor herablassendem Hineinschulmeistern
oder überlegenem Hineinmoralisieren, oder gar vor einer Tendenz-
macherei, die sremde Dinge mit einschmuggeln will, aber ehrliche
Makler des Guten müssen wir sein. Kann jeder gutes haben, der's
will? Und sind alle Organe, die danach verlangen, nach Möglich-
keit zum Erfassen geübt? Und wird wenigstens nicht verdorben,
wo nicht geholfen wird?

Wir denken an Kolportage und Schmutzpresse, an Gassenhauer
und Tingeltangel ä 1a moäs, an Bazarmöbel und Oeldruckschund, an
Grundstückwucher und Bauschwindel, aber auch an Zeitungen mit
den dahinter stehenüen Partei-, Klüngel- oder Verlagsinteressen, an
große Bühnen bis zu den „sührenden", an Theater- und Konzert-
agenturen, an Fabrikationsbranchen, die Moden machen und be-
kämpfen. Das „Geschäft" ist's, das auch diese Welt regiert. Und
zwar, was wir ja nicht vergessen wollen: Weit über die Kreise der
Gesinnungslumpen hinaus. Nein, die doppelte Buchsührung von Ge-
schäst und Moral wird auch von Männern von persönlich unantast-
barer Ehrenhaftigkeit geübt, weil etwas wie eine große allgemeine
Suggestion dem Geschüst als „ungeschäftlich" verbietet, was man vom
einzelnen als sittlich verlangt. Und unser Recht, das ja sogar als
„berechtigte Jnteressen" nur egoistische anerkennt, ist Niederschlag dieses
Geistes. Denken wir als an ein schlagendes Beispiel an nnser Ur-
heberrecht, das nur nach dem Tages-Marktwerte entschüdigt, so jeden
gerissenen Spekulanten höher als den Werteschöpfer belohnt, die Ver-
breitung des guten Neuen verzögert und doch immer nur weiter
„ausgebaut" werden soll. Wann ist von einer Beschränkung seiner
schlechten Nebenwirkungen oder von einer Ergänzung die Rede, etwa
durch einen „Urheberschatz", der die Urheberrechte bedeutender Geistes-
schöpfungen im Jnteresse der Gesamtheit ankaufen und verwerten
Ivürde? Und wo ästhetische Fragen sonst ins ösfentliche Leben spielen,
wie treibt man's damit? Nur aus einem Gebiete ein paar Be-
nennungen an Beispiels Stelle: Kunstakademieen, Baugewerkschulen,
ofsizielle Denkmalskunst, Restaurationen. Nicht, daß es irgendwo an
Ansätzen sehlte! Jn allen Regierungen und Parlamenten sind jetzt
schon Männer, die uns Gesinnungsgenossen sind, und was sie ge-

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