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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 1 (1. Oktoberheft 1904)
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Avenarius, Ferdinand: Wo stehen wir?
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0021

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nicht unsre innern und äußern Organe dafür, daß sie Kunst nach
Goethes so viel zitiertem Wort als die „Sprache des Unaussprech-
lichen" erfassen und ihren Gehalt der Seele richtig vermitteln können,
so deuten diese Organe zunächst unsicher und falsch. Da erscheint
Prahlerei als Stürke, Süßlichkeit als Anmut, Höhendunst als idealistische
Größe, Phrasenrausch als Gedankenfreudigkeit, Schönfärberei als
Schönheit, Frömmelei als Religiosität. Auf die falsche Uebertragung
der Werte solgt mit weiterer Verkümmerung ihre Nicht-Uebertragung;
folgt der Zustand, in dem Aesthetisches überhaupt nicht mehr wirkt:
am Ende steht die Taubstummheit des Gefühls. Und da gibt es
ihrer, die die Erziehung der inneren und äußeren Organe zum Mittler-
amt jener Geisteskräfte eine „Außen"-, eine „Oberflächenkultur" nen-
nen! So wenpg ist das Problem der ästhetischen Kultur auch nur
in seinem Grundelemente ersaßt! Bleiben doch die größten Persön-
lichkeiten, ein Bismarck, Luther, ein Franz von Assisi, ein Dante,
ein Beethoven, ein Böcklin, ein Goethe, wer's sei, gerade nur mit dem
Aeußern, gerade nur mit dem Oberflüchlichen übertragbar, wenn
diü Pstantasie nicht nachbilden kann.

Spotten wieder andere über die moderne Kunstbewegung: Also
ihr glaubt, ihr könntet jeden kleinen Mann zu Goethes Faust, Beet-
hovens letzten Quartetten und Dürers Melancholie führen — so ant-
worten wir ihnen: Es hat noch keiner von uns behauptet, daß alle
Menschen auf den Montblanc steigen müßten. Jeder so hoch seine
Kräfte reichen! Aber dafür wollen wir sorgen, daß der Starke
zu geistigem Bergausstieg in Stand komme, auch wenn er kein Reicher
ist. Dem Schwachen bieten auch Tüler und Hügel etwas, kann er
sich aber nur an der Blume am Fenster ersreuen, so sei's wenigstens
eine echte und keine aus Buntpapier. Das gerade unterscheidet uns
von Früheren, daß wir nicht das Dach mit Zinnen und Türmen
vor dem Erdgeschoß ausbauen wollen und daß wir das tägliche Brot
sür wichtiger halten als den Sonntagswein. Aber beim allerwichtig-
sten weil alltüglichen bleibt uns noch am meisten zu tun. Die ge-
waltige Entwicklung von Naturwissenschast und Technik hat die Fülle
ihres Segens im letzten Jahrhunderte lawinenartig über die Welt
gegossen, sie hat manches verschüttet, was gerettet werden muß, und
liegt noch selber als eine sormlose Masse da. Das deutsche Dorf ist
in Gefahr, die deutsche Landschast, die deutsche Heimat. Der ästheti-
schen Kultur durch einseitiges Verständlertum entwöhnt, erkannt' es
ein Geschlecht nicht sosort, wenn eine Technik, die taschenspielernd
„alles kann", Kunststücke hinsetzte sür Gediegenheiten, die eine Jahr-
hunderte lange Ueberlieserung in Liebe heraufgepflegt hatte. Und
doch wünschen wir die Klimbimmöbel weg aus den Stuben, die Vor-
stadts-Zinskästen weg vom Land, die Prahlbauerei weg aus den
Städten, nicht weil wir reaktionär, sondern weil wir modern sind.
Welchen moderneren Gedanken gibt es als den der unmittelbaren
Verbindung von Kunst und Leben? Während doch lange Jahrzehnte
vorher die Kunst nur als die berühmte „gute Stube" gepslegt hatten,
in der man nicht wohnt! Das Alte, das wir schätzen, ist mit dem
besten Neuen eines Geistes, ist zweckmäßig, gediegen und schlicht,
wie die beste Maschine, die ihre Arme nicht um sogenannter Schön-



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