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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1904)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0470

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Dann entsinne ich mich eines kleinen Gebets, das sie mich lehrte,
und eines Psalmverses.

Von allen den Geschichten, die sie mir erzählte, habe ich nur eine
schwache, unklare Erinnerung. Nur an eine einzige von ihnen erinnere
ich mich so gnt, daß ich sie erzählen könnte. Es ist eine kleine Geschichte
von Jesu Geburt.

Seht, das ist beinah alles, was ich noch von meiner Großmutter

weiß, außer dem, woran ich mich am besten erinnere, nämlich dem großen
Schmerz, als sie dahinging.

Jch erinnere mich an den Morgen, an dem das Ecksofa leer stand
und es unmöglich war, zu begreisen, wie die Stunden des Tages zu
Ende gehen sollten. Daran erinnere ich mich. Das vergesse ich nie.

Und ich erinnere mich, daß wir Kinder hingeführt wurden, um die
Hand der Toten zu küssen. Und wir hatten Angst, es zu tun, aber da

sagte uns jemand, daß wir nun znm letztenmal Großmutter für alle die
Freude danken könnten, die sie uns gebracht hatte.

Und ich erinnere mich, wie Märchen und Lieder vom Hause weg-
fuhren, in einen langen, schwarzen Sarg gepackt, und niemals wiederkamen.

Jch erinnere mich, daß etwas aus dem Leben verschwunden war.
Es war, als hätte sich die Tür zu einer ganzen schönen, verzauberten,
Welt geschlossen, in der wir früher frei aus- und eingehen durften. Und
nun gab es niemand mehr, der sich darauf verstand, diese Tür zu öffnen.

Und ich erinnere mich, daß wir Kinder so allmählich lernten, mit

Spielzeug und Puppen zu spielen und zu leben wie andere Kinder auch,

und da konnte es ja den Anschein habeu, als vermißten wir Großmutter
nicht mehr, als erinnerten wir uns nicht mehr an sie.

Aber noch heute, nach vierzig Jahren, wie ich da sitze und die Legenden
über Christus sammle, die ich drüben im Morgenland gehört habe, wacht
die kleine Geschichte von Jesu Geburt, die meine Großmutter zu erzählen
pflegte, in mir anf. Und ich bekomme Lust, sie noch einmal zu erzählen
und sie auch in meine Sammlung mit aufzunehmen.

*

Es war an einem Weihnachtstag, alle waren zur Kirche gefahren,
außer Großmutter und mir. Jch glaube, wir beide waren im ganzen
Hause allein. Wir hatten nicht mitfahren können, weil die eine zu jung
und die andere zu alt war. Und alle beide waren wir betrübt, daß
wir nicht zum Mettegesang fahren und die Weihnachtslichter sehen konnten.

Aber wie wir so in unserer Einsamkeit saßen, fing Großmutter zu
erzählen an.

„Es war einmal ein Mann", sagte sie, „der in die dunkle Nacht
hinausging, um sich Feuer zu leihen. Er ging von Haus zu Haus und
klopfte an. ,Jhr lieben Leute, helft mir!* sagte er. Mein Weib hat
eben ein Kindlein geboren, und ich muß Feuer anzünden, um sie und
den Kleinen zu erwärmen/

Aber es war tiefe Nacht, sodaß alle Menschen schliefen, und niemand
antwortete ihm.

Der Mann ging und ging. Endlich erblickte er in weiter Ferne
einen Feuerschein. Da wanderte er dieser Richtung zu und sah, daß das
Feuer im Freien brannte. Eine Menge weiße Schase lagen rings um
das Feuer und schliefen, und ein alter Hirt wachte über der Herde.

2. Dezemberheft l.904 427
 
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