Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 6 (2. Dezemberheft 1904)
DOI Artikel:
Lose Blätter
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0471

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Als der Mann, der Feuer leihen wollte, zu den Schafen kam, sah
er, daß drei große Hunde zu Füßen des Hirten ruhten und schliefen.
Sie erwachten alle drei bei seinem Kommen und sperrten ihre weiten
Rachen aus, als ob sie bellen wollten, aber man vernahm keinen Laut.
Der Mann sah, daß sich die Haare auf ihrem Rücken sträubten, er sah,
wie ihre scharfen Zähne funkelnd weiß im Feuerschein leuchteten, und
wie sie auf ihn losstürzten. Er fühlte, daß einer von ihnen nach seinen
Beinen schnappte und einer nach seiner Hand, und daß einer sich an seine
Kehle hängte. Aber die Kinnladen und die Zähne, mit denen die Hunde
beißen wollten, gehorchten ihnen nicht, und der Mann litt nicht den klein-
sten Schaden.

Nun wollte der Mann weiter gehen, um das zu finden, was er
brauchte. Aber die Schafe lagen so dicht nebeneinander, Rücken an Rücken,
daß er nicht vorwärts kommen konnte. Da stieg der Mann auf die Rücken
der Tiere und wanderte über sie hin dem Feuer zu. Und keins von den
Tieren wachte auf oder regte sich."

So weit hatte Großmutter ungestört erzählen können, aber nun konnte
ich es nicht lassen, sie zu unterbrechen. „Warnm regten sie sich nicht,
Großmutter?" fragte ich. „Das wirst du nach einem Weilchen schon er-
fahren," sagte Großmutter und fuhr mit ihrer Geschichte fort.

„Als der Mann fast beim Feuer angelangt war, sah der Hirt auf.
Es war ein alter, mürrischer Mann, der unwirsch und hart gegen alle
Menschen war. Und als er einen Fremden kommen sah, griff er nach

einem langen, spitzigen Stabe, den er in der Hand zu halten Pflegte,

wenn er seine Herde hütete, und warf ihn nach ihm. Und der Stab fuhr
zischend gerade aus den Mann los, aber ehe er ihn traf, wich er zur
Seite und sauste, an ihm vorbei, weit über das Feld."

Als Großmutter so weit gekommen war, unterbrach ich sie abermals.
„Großmutter, warum wollte der Stock den Mann nicht schlagen?" Aber
Großmutter ließ es sich nicht einfallen, mir zu antworten, sondern fnhr
mit ihrer Erzählung fort.

„Nun kam der Mann zu dem Hirten und sagte zu ihm: ,Guter

Freund, hilf mir, und leih mir ein wenig Feuer. Mein Weib hat eben
ein Kindlein geboren, und ich muß Feuer machen, um sie und den Kleinen
zu erwärmenck

Der Hirt hätte am liebsten nein gesagt, aber als er daran dachte,
daß die Hunde dem Manne nicht hatten schaden können, daß die Schafe
nicht vor ihm davongelaufen waren und daß sein Stab ihn nicht fällen
wollte, da wurde ihm ein wenig bange, und er wagte es nicht, dem
Fremden das abzuschlagen, was er begehrte.

,Nimm, soviel du brauchst/ sagte er zu dem Manne.

Aber das Feuer war beinahe ausgebrannt. Es waren keine Scheite
und Zweige mehr übrig, sondern nur ein großer Gluthaufen, und der
Fremde hatte weder Schaufel noch Eimer, worin er die roten Kohlen hätte
tragen können.

Als der Hirt dies sah, sagte er abermals: ,Nimm, soviel du brauchst!*
Und er freute sich, daß der Mann kein Feuer wegtragen konnte. Aber
der Mann beugte sich hinunter, holte die Kohlen mit bloßen Händen aus
der Asche und legte sie in seinen Mantel. Und weder versengten die
Kohlen seine Hände, als er sie berührte, noch versengten sie seinen Mantel,

§28

Runstwart XVIII, 6
 
Annotationen