Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 6 (2. Dezemberheft 1904)
DOI Artikel:
Rundschau
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0484

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
und in ihnen gewachsen. Während
er sie bekämpfte, waren sie in ihm;
sie litten in ihm selbst wie in
anderen. Und auch die Kämpfen-
den hatten eine gemeinsame Heimat.

Noch jetzt gibt es Reste davon.
Die neuere Anschauung von der Ent-
wicklung der Erde und des Lebens
auf ihr wird gern mit dem bibli-
schen Schöpfungsbericht auseinander-
gesetzt oder die Anschauung von den
Naturgesetzen an den biblischsn Er-
zählungen, die davon (natürlich)
nichts wissen. Aber es ist nicht
mehr viel Ernst darin, man steht
dieser Ausdrucks- und Vorstellungs-
weise schon zu fremd gegenüber.
Sie ist die Sprache nur eines Volks-
teils noch. Während man früher,
wenn man deutlich und verständlich
über Naturgeschichtliches sprechen
l wollte, biblische Vorstellungen ge-
brauchte, muß man heute im Ge-
genteil, sogar wenn man die eigent-
lichsten religiösen Errungenschaften
des Christentums selbst auseinander-
setzen will, die biblischen Vorjtel-
lungen gerade abstreifen. Man tut
es auch ganz von selbst. So sehr
hat sich die Kultursprache gewandelt.

Das Verwirrende und Unheimliche
des jetzigen Zustandes ist nun nicht
dies, daß es gerade die Sprache
der Bibel ist, die verloren geht.
Selbst im Sinne des Christentums
nicht. Denn die Kultursprache der
Bibel ist nicht auf christlichem
Boden gewachsen, sondern umge-
kehrt, das Christentum hat versucht,
sich in dem vielfach widerstreben-
den babylonisch-ägyptisch-israelitisch-
persisch-griechischen Vorstellungsma-
terial auszudrücken. Wenn nun an
Stelle dieser so zusammengekomme-
nen vorchristlichen Kultursprache eine
andere auf christlichem Boden ge-
wachsene treten könnte, so dürfen
die Vertreter des Christentums selbst
am wenigsten dagegen einzuwenden
haben.

Und so nun — nicht im Sinne
des Einverständnisses mit ollen
Goetheschen Ergebnissen oder anch
nur mit seinem Leitziel, sondern
im Sinne eines gemeinsamen Er-
lebnisses — so scheint Goethe eine
uns alle einigende Kultursprache
werden zu wollen. Wäre das nicht
ein sehr großer Gewinn? Gr G

G Neue Bücher

Der Kunstwart wird auf neue Er-
zählungen, Dramen und Gedichte auch
ferner so aufmerksam machen, wie
er das mit seinen „Losen Blättern"
eingeführt hat, und auch besondere
Kritiken wird er nach wie vor ein-
zelnen wichtigeren Büchern widmen.
Daneben aber wird er fortan Sam-
mel-Besprechungen nach Art der fol-
genden bringen. „Neue Bücher" —
wir, die wir die nene Literatur
für den Kunstwart prüfen, wollen
unter dieser Ueberschrift aus all
den Bücherhaufen das Ergebnis einer
ersten Sichtung mitteilen, einer Vor-
Lese. Wir verzeichnen hier, was von
Neuem uns des Beachtens am
meisten wert erscheint, zumeist, weil
wir es empfehlen können, dann und
wann auch, weil es uns in irgend
einer Beziehung besonders charak-
teristisch erscheint. Eine weitere
Lese wird dann entscheiden, mit
welchen Büchern der Kunstwart sich
noch einmal eingehender zu beschäf-
tigen hat.

Es vergeht jetzt doch kein Jahr
mehr, ohne daß es uns drei, vier gute
Romane schenkt. Wenn anch nicht
gleich drei, vier Romane für die
„Ewigkeit", also für mindestens hnn-
dert Jahre, so doch Bücher, die
unserm Geschlecht nicht nur in einer
eiligen Stunde in der Eisenbahn
oder nach dem Mittagessen lesbar
sind, die man vielmehr getrost zwei-
mal lesen kann. Man hält sie sich
für gute Stunden in Greifnähe,
etwa in der Gegend, wo man seinen
Gottfried Keller stehen hat, wenn

2. Dezemberheft (ZOH
 
Annotationen