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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1904)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0485

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Hierher gehört immerhin das neue
Buch von Walther Siegfried:
„Die Fremde" (S. Hirzel in
Leipzig, 370 S., OOH), zmar kein
Roman, aber eine umfangreiche No-
velle. Eine Novelle von der Art, wie
sie selten geworden ist, ohne Rich-
tung, nicht auf Realismus, Symbolis-
mus oder sonst einen bestimmten
„Geschmack" gestellt, sondern einfach
eine poetische Erzählung. Sie arbeitet
mit wenig Menschen, geht vor sich
in einer schönen Natur, der Schweiz,
die unser Poet glücklicherweise nicht
wie ein Maler sieht — ein weit-
verbreitetes Uebel heutzutage, wo
alle Künste so gern wie Kraut und
Rüben durcheinandergemengt wer-
den — sondern eben wie ein Poet.
Siegfried quält uns auch nicht mit
Spitzfindigkeiten, alles geht klar und
rein vor sich. Seine Menschen sind
weder Artisten noch Neurastheniker,
sie sind nicht einmal tiefsinnig, es
sind gradlinige Naturen aus dem
wohlsituierten Bürgerstand, nicht ein-
mal durch alle Großstadtgossen ge-
schleist, vielmehr Leute von rein-
lichen Manieren und Gesinnungen.
Aber auch über sie kommt das
Schicksal in Gestalt eines schönen
Weibes und hilft zur Läuterung
und Vernichtung. Nicht der ge-
ringste Vorzug des Buches ist sein
gutes Deutsch.

Ein klares Deutsch, wenn auch
oft spröde und trocken, schreibt auch
Gerhard Oukama Knoop in seinem
neuen Roman: „Hermann Os-
l e b" (Berlin, Egon Fleischel L Co.,
2(0 S., lZOH). Hätten wir englische
Kamine und Londoner Nebel, so
würde das Buch leicht viele Freunde
in guten Häusern gewinnen. Es
sührt seinen jugendlichen Helden,
einen Kaufmann, nach mancherlei
inneren und äußeren Jrrfahrten zu
einer geachteten Stellung in seiner
Heimatstadt Bremen. Am schwäch-

sten ist unser Autor als Gestalter.
Die Menschen seines Buches sind
fast alle wenig tief erfaßt und wir-
ken schemenhaft.

Blaß und trocken ist Wilden-
bruch eben nicht. Blut und scharfe
Umrisse haben seine Gestalten auch
in seiner neuen Novelle: „Semi-
ramis" (Berlin, G. Grote, 320 S.,
lHOH), und er versteht es auch hier,
eine Handlung zu führen, den Kno-
ten zu schürzen und wieder zu
lösen. Frau Schellram, von ihren
Freunden Semiramis genannt, eine
Frau voll Lebens- und Arbeitskraft,
die in Berlin durch ihre Frauen-
zeitung zu Reichtum und Ansehn
gelangt ist, läßt sich in einer schwa-
chen Stunde von den glüheuden
Augen eines jungen Mannes fesseln
und vermutet hinter diesen Augen
eine geniale Dichternatur, der man
aus der Misere des Alltags heraus-
helsen muß. Dieser Dichter nun
erweist sich als ein ausgemachter
Lump, und sein Talent ist so un-
produktiv, daß es nur reicht, um
boshafte Kritiken zu schreiben. Mit
grollendem Behagen rückt Wilden-
bruch diesem Jüngling zu Leibe und
entkleidet ihn nach und nach vor
unsern Augen all seiner Talmivor-
züge. Das sind wohl die besten
Seiten des Buchs. Auch Frau Schell-
ram kommt schließlich hinter die
schöne Maske, und statt seiner ge-
winnt sie dieses Menschen junge,
abgehärmte Frau für sich. Sie ist
eine Künstlerin und wird nun ihre
Talente zu eigenem und der Frauen-
zeitung Vorteil unter Frau Schell-
rams Leitung Pflegen können. Wil-
denbruch scheint immer zu ..lühen,
während er schreibt, und diese Glut
teilt sich auch dem Leser mit, so-
daß man erst hinterdrein merkt, durch
wie viel psychologische Unwahrschein-
lichkeiten und technische Ungeschick-
lichkeiten man dem temperament-
vollen Autor gefolgt ist, ohne „aufzu-

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